Im Februar 2022 interviewte Lilli Hahn die Schachaktivistin WGM Jennifer Shahade für den FIDE-Podcast. Im Juni 2022 erschien dann eine bebilderte Zusammenfassung des Interviews im Schachmagazin64.
Hier kommt der Interviewtext:
Flow-erlebnis im Schach | wgm jennifer shahade
Im Rahmen des „Year of Woman in Chess“ hat der Weltschachverband FIDE einen Podcast ins Leben gerufen. Die Interviews führt Lilli Hahn, Vizepräsidentin der ChessSports Association. Sie sprach mit der zweimaligen US-Frauenschachmeisterin, Schachkommentatorin und Buchautorin WGM Jennifer Shahade aus den USA. Shahade ist für den US-Schachverband aktiv und setzt sich speziell für die Förderungen der Frauen im Schachsport ein. Außerdem betreibt sie selbst einen eigenen Podcast mit dem Namen „Ladies Knight“.
Frau Shahade, Sie sind in einer echten Schachfamilie aufgewachsen. Ihr Vater ist ein FM, Ihr Bruder Greg ist ein IM. Gab es zuhause jemals etwas anderes als Schach?
Selten. Für mich war das fantastisch. Viele Mädchen hören im Teenager-Alter mit Schach auf und unternehmen dann irgendwelche anderen Sachen, die sie cool finden. Meine Familie hat mich immer wieder auf den richtigen Pfad zurückgebracht, wenn ich mal gerade etwas vom Schach abgekommen bin. Da hatte ich wirklich Glück.
Wie haben Sie denn Ihre Liebe zum Schach entwickelt? Gab es ein bestimmtes Ereignis, oder war das ein kontinuierlicher Prozess?
Eine wichtige Rolle spielte das Turnier in Chicago. Ich trat dort bei den US Open an, obwohl mein Rating mit etwa 1600 noch verhältnismäßig niedrig war. Ich war 14 Jahre alt und fast das einzige Mädchen. Als ich gegen Spieler gewann, die 2000 und höher bewertet waren, konnte ich es kaum fassen und war plötzlich hin und weg vom Schachspiel. Ab diesem Zeitpunkt wollte ich es richtig wissen.
Wie ging es dann in Ihrer Entwicklung weiter?
Ungefähr ein Jahr später wurde ich zu einem Turnier nach Brasilien eingeladen, um die USA zu repräsentieren. Wahrscheinlich hatte ich Glück, dass die anderen stärkeren Mädchen zu diesem Zeitpunkt etwas anderes vorhatten. Nach Brasilien zu fliegen und für mein Land zu spielen, war für mich eine unglaubliche Erfahrung. Plötzlich war mir klar, was Schach mir geben kann: eine Gelegenheit, um die Welt zu reisen und um Menschen aus anderen Kulturen kennenzulernen. Diese Erfahrung hat wirklich mein Leben verändert.
Sie sind nicht nur Spielerin, sondern engagieren sich auch für die Stärkung der Rolle der Frauen im Schach. Im US-Schachverband arbeiten Sie als “Women´s Programme Director”. Was beinhaltet denn diese Rolle genau?
Eine ganze Menge. Ich werbe für mehr Mädchen und Frauen im Schach, organisiere Events und kümmere mich um Sponsoren. Der Schachclub in Saint Louis unterstützt uns dabei ganz besonders. Das ermöglicht es uns, Gelder an verschiedene Organisationen auszuzahlen, die sich für das Mädchenschach engagieren. Ich besuche auch gerne Schachturniere, um mit den Mädchen dort zu reden und sie zu ermuntern. Die großen nationalen Schulschachturniere in den USA sind riesige Events mit bis zu 1000 Spielern. Ungefähr 20 Prozent davon sind Mädchen.
Haben sich Ihre Aktivitäten während der Pandemie auch ins Internet verlagert?
Ja, das war ja anders gar nicht möglich. Wir hatten das Glück, dass wir die besten und großartigsten Schachlegenden gewinnen konnten, um zu unseren Mädchen zu sprechen: von Judit Polgar bis zu Garri Kasparov. Oder zum Beispiel Phiona Mutesi, die “Queen of Katwe”. Das sind Menschen, die ihren Erfolg beim Schach dazu nutzen, ihr Umfeld voranzubringen. Solche Persönlichkeiten bewundere ich. All das war nur durch die Pandemie möglich.
Sie haben ein Kunstwerk geschaffen mit dem Titel “Not particularly beautiful”. Worum geht es bei dem Werk?
Es geht dabei um Sexismus. Im Prinzip ist es ein Schachbrett. Auf allen 64 Feldern sind sexistische Kommentare, die jemand im Internet einer Schachspielerin an den Kopf geworfen hat, zum Beispiel Anna Rudolf oder mir. “Not particularly beautiful” ist zwar nicht das schlimmste, was je über mich gesagt wurde. Aber es zeigt, dass Schachspielerinnen häufig auf ihr Aussehen reduziert werden. Dabei ist das Aussehen am Schachbrett doch völlig irrelevant!
Wie kamen Sie denn auf die Idee, diese Beleidigungen mit einem Schachbrett darzustellen?
Tatsächlich gibt es dafür einen historischen Vorläufer. Ende des 15. Jahrhunderts wurde die Dame im Schach zur stärksten Figur aufgewertet. Ein französischer Künstler hat ungefähr im Jahr 1490 ein Schachbrett erstellt, auf dem 64 Beleidigungen gegenüber der Dame als Figur im Schach dargestellt waren. Eigentlich ist das eine der besten Metaphern aller Zeiten über weibliche Emanzipation: obwohl die Dame mit ihren neuen Eigenschaften ihren König besser schützen konnte, bekam sie den gesamten Hass ab. Mein Ziel ist es, dass Frauen, die etwas Großartiges tun, Anerkennung statt Hass erhalten.
Lassen Sie uns mal kurz das Thema Schach beiseite legen und über Ihre zweite Leidenschaft sprechen, nämlich Poker. Welche Gemeinsamkeiten gibt es zwischen Schach und Poker?
Die Top-Pokerspieler analysieren das Spiel inzwischen so wie eine Schachpartie. Poker hat sich also dem Schach in gewisser Weise angenähert. Umgekehrt ist das Schachspiel inzwischen deutlich psychologischer geworden als früher. Manchmal ist es besser, Züge zu finden, die den Gegner überraschen, als den objektiv besten Zug. Wenn ich Carlsen oder Caruana über die Eröffnungswahl reden höre, denke ich manchmal, sie sprechen über Poker.
In beiden Bereichen braucht es sicherlich auch eine gewisse mentale Stärke. Wie wichtig ist es im Spitzenbereich, gut mit Druck umgehen zu können?
Unter Druck ruhig zu bleiben ist natürlich unerlässlich. Man muss aber nicht unbedingt von Natur aus cool sein, um den Druck zu meistern. Mir zittern manchmal die Beine, so angespannt bin ich in bestimmten Situationen. Ich versuche aber, das in positive Energie umzuwandeln. Es ist einfacher, an sich als Person zu arbeiten, als jemand komplett anderes sein zu wollen. Wenn ich ein emotionaler Typ bin, dann sollte ich meine Emotionen nicht unterdrücken. Besser ist es, sie in die gewünschte Richtung zu kanalisieren. Idealerweise kommt man dann sogar in eine Art Flow.
Sie engagieren sich ja auch sehr in Sachen Breitensport. In welchen Bereichen kann das Schach Ihrer Meinung nach noch zulegen?
Wir müssen uns überlegen, wie wir das Schachspiel noch besser an erwachsene Anfänger herantragen können. Manchmal konzentrieren wir uns zu sehr auf die Kinder. Natürlich ist das auch großartig, denn Kinder sind unsere Zukunft. Aber wir sollten auch älteren Menschen die Gelegenheit geben, Schach zu spielen und sich selbst zu entwickeln.
Welche Spielerin in der Geschichte des Schachs würden Sie zum Abendessen einladen?
Das ist eine tolle Frage. Ich umgehe mal die offensichtliche Antwort “Judit Polgar” und nenne stattdessen Sonja Graf - eine unglaubliche Frau. Sie war Antifaschistin und Teil des Widerstands gegen die Nazis. Sie hatte Glück, dass sie sich beim Ausbruch des 2. Weltkrieges gerade in Buenos Aires befand. Zu ihrer Zeit war sie hinter Vera Menchik die Nummer zwei der Welt. Es ärgerte sie maßlos, dass sie alle Weltmeisterschaften gegen Menchik verlor. Aber was ich an ihr bewundere ist, dass sie Schach als Instrument nutzte, um die Welt zu bereisen und ein besserer Mensch zu werden.
Wie sehr hat Schach denn Ihr eigenes Leben bereichert?
Oh, wow. Schach hat mich auf ganz verschiedene Weise positiv beeinflusst. Durchs Schach habe ich diese “Flow Experience” erfahren dürfen. Sich absolut in eine Sache zu vertiefen, das finde ich ein wunderbares Gefühl. Auf diese Weise lernte ich auch, wie es ist, verliebt und glücklich zu sein. Sich selbst im Flow völlig verlieren zu können, das habe ich dem Schach zu verdanken.
Was halten Sie als weibliche Großmeisterin (WGM) eigentlich von speziellen Titeln für Frauen?
Ich habe schon öfter den Vorschlag gemacht, WGM und IM miteinander gleichzusetzen. Das gleiche könnte für WIM und FM gelten. Frauen könnten dann denjenigen Titel verwenden, der abhängig vom Kontext besser passt oder den sie lieber tragen. Ganz verzichten würde ich auf Frauentitel nicht, denn sie können für die Entwicklung und auch für die persönliche Außendarstellung einer Spielerin sehr wichtig sein.
Was würden Sie sich abschließend von der Schachwelt wünschen?
Generell sollten wir Frauen häufiger fragen, was sie möchten, anstatt über sie hinweg zu entscheiden. Außerdem wünsche ich mir, dass das Thema Frauenschach nicht immer als Problem wahrgenommen wird. Auch wenn es leider immer noch Diskriminierung und Sexualisierung gibt, müssen wir auch die positiven Dinge ins Schaufenster stellen. Ansonsten wäre das unfair gegenüber allen Frauen da draußen, die die Schachwelt rocken und jeden Tag ihr Bestes geben.
So wie Sie das tun. Vielen Dank für Ihr Engagement und Ihre Zeit, Frau Shahade.