Türme haben in Festungen ihren angestammten Platz, die Ecke. Anfangs dazu verdammt, regungslos auszuharren, warten sie in klaustrophobischer Bedrängung, sich endlich am Spiel beteiligen zu können. Ist es dem Springer noch vergleichsweise gleichgültig, ob das Brett voll oder leer ist, entfaltet der Turm seine ganze Kraft und Dynamik erst, wenn sich die Reihen gelichtet haben. Zu Recht wird er als Schwerfigur bezeichnet, benötigt zur vollen Entfaltung idealerweise offenen Linien und vermag in Zeitnotphasen gar per Kopfstand zur Dame zu mutieren.
Wundern sei gestattet, was der Turm überhaupt auf dem Schachbrett verloren hat. Bauern symbolisieren das Fußvolk, Springer die Kavallerie, König und Dame führen die ganze Mannschaft an; lediglich der Läufer scheint ebenso deplaziert, stellt man sich ein Schachbrett als Schlachtfeld vor.
Da Zeitzeugen kaum dokumentiert haben, darf spekuliert werden: Die Erklärung scheint zunächst einfach. An Stelle des Turmes stand in Indien, in Persien und in den arabischen Ländern ein Wagen, und die Figur hieß im Mittelalter Roch. Woher nahm aber der Roch eines Tages die Form eines Turmes? Zwei Erklärungen stehen zur Auswahl: Roch klingt so ähnlich wie das italienische rocca = Festung, und die einfachste stilisierte Darstellung einer Festung ist der Turm.
Die zweite Erklärung nimmt ein Missverständnis, eine Verwechslung an. Indische Händler verkauften in Europa Schachfiguren, von denen die Läufer, wie in Indien üblich, als Elefanten mit einem kleinen Turm (der ein Wehrturm war) auf dem Rücken dargestellt waren. Der Läufer hieß zwar Fil oder Alfil, was Elefant bedeutete, hatte aber in normalen Figurensätzen nicht die Gestalt eines Elefanten. Man brachte daher den Elefanten nicht mehr mit dem Fil in Verbindung, wusste mit diesen ´Elefantentürmen´ nichts anzufangen, stellte sie auf den Platz des Rochs – und ließ schließlich den Elefanten unter dem Turm weg. Möge der Leser selbst entscheiden, welcher Version er Glauben schenkt.
Schwarz wird sicher nicht gewinnen. Die Aufgabe besteht in der Suche eines Matt in 4 Zügen, mit Weiß am Zug. Kleiner Tipp: Wer sich mit 1.h8 eine Dame gönnt, hat keine Chance. Zu trivial! Künstlich kreierte Studien erfordern für den Schachkomponisten, in diesem Falle Dr. Ado Kraemer, üblicherweise viele Stunden mühevoller Arbeit, selten mit naheliegendem Schlüsselzug.
Noch seltener entstehen studienartige Stellungsbilder aus gespielten Schachpartien heraus. Um so faszinierender, wenn etwas derartiges sogar bei einem Schachweltmeisterschaftskampf geschieht: Wohl dem, der einmal Gelegenheit bekommt am Entstehungsprozess einer derart ´berühmten Partie´ dabei zu sein. Und sei es nur als Zuschauer. „Wenn ein Meister eine interessante Partie gespielt hat, die man als ein schachliches Kunstwerk bezeichnen kann, dann lebt diese Partie Jahrzehnte weiter und verschafft den Schachspielern einen ästhetischen Genuss“, schrieb einmal Botwinnik.
Doch schon während der Partie nehmen die Zuschauer, die eine Partie unmittelbar verfolgen, dieses Schönheitsempfinden wahr. Ein Augenzeugenbericht von Linder beschreibt diese Situation:
„...´Musik wird in der Stille geboren!´, an diese Worte des Komponisten Dimitri Schostakowitsch erinnerte ich mich unwillkürlich, als ich über den weichen Teppich des Kongresspalastes von Baguio zur 17. Partie des Titelkampfes Karpow- Kortschnoi ging. Denn auch die Werke der Schachkunst werden in der Stille geboren. Für diese Stille sorgte im Kongresspalast die modernste Technik. Eine tiefe, fast außerirdische Stille!... Nur die automatische Bewegung der Figuren auf dem Demonstrationsbrett strahlt die Unruhe des schachlichen Denkens aus. In solchen Situationen spürt man die Feinheiten der Manöver und der strategischen Pläne, die heftigsten Angriffe und die tapfere Verteidigung. Hoffnungen und Verzweiflung, ehrenvolle Siege und tragische Niederlagen werden nacherlebbar. In dieser denkwürdigen 17. Partie wurde die Nimzowitsch-Indische Verteidigung gespielt. Als Nachziehender opferte Karpow bereits in der Eröffnung am Damenflügel einen Bauern, um im Zentrum Gegenspiel zu bekommen. Weiß erreichte nach einem komplizierten Kampf im Mittelspiel Vorteil, konnte ihn aber dank dem taktischen Erfindungsreichtum seines Gegners nicht entscheidend umsetzen. Es kam zu einem einmaligen Endspiel, in dem der schwarze König einen Marsch von der 8. Reihe auf die 2. Reihe antrat , so als wollte er sich am Mattsetzen des gegnerischen Königs selber beteiligen.“
Verlassen wir an dieser Stelle den Bericht von Linder und betrachten die denkwürdige Stellung:
Nachdem Schwarz 38...Tc6 gespielt hatte, antwortete Weiß 39.Ta3-a1 , um sich gegen das drohende Grundlinienmatt zu verteidigen. Gehört hinter diesen Zug ein tadelndes Frage- oder ein lobendes Ausrufezeichen?
Leider muss hinter den Zug ein dickes Fragezeichen gesetzt werden. Wieder einmal in Zeitnot spielte Kortschnoi den verhängnisvollen Turmzug auf dessen Ausgangsfeld zurück und übersah dabei 39...Sf3! Nach diesem Springerzug gab Weiß auf. Er mußte 39.g3 oder g4 spielen. So war jetzt ein Matt in zwei Zügen möglich: (40.gxf Tg6+ 41.Kh1 Sf2#).
Die im Diagramm angegebene Stellung trägt problemartigen Charakter, da alle schwarzen Figuren am Mattsetzen des gegnerischen Königs beteiligt sind, und stellt somit wieder die Verbindung zum ersten Diagramm dieses Kapitels her: Kleiner Tipp zur Lösung des Matt in 4 Zügen von Ado Kraemer: Auch hier ist es das Feld a1, dem besonderes Augenmerk geschenkt werden will. Der erste Zug sieht verrückt aus: 1.h8=L! Wieso um Himmels willen keine Dame? Wegen des raffinierten Gegenspiels 1...Ld4+ 2.Kh7 La1!! , und wenn jetzt auf h8 eine Dame stünde, käme es beim planmäßigen 3.Dxa1 zum schwarzen Patt! Wohlweislich wurde ein Läufer gewählt, und diese Askese belohnt mit einem seltenen Drei-Läufer-Matt: 2...La1 3.Lxa1 Ka3 4.Ld6. Eine Rarität, die wohl wirklich nur in Problemkonstruktionen auftritt.
Zum Raritätenkabinett gehört zweifelsfrei auch das nun präsentierte Puzzle, das in punkto Komplexität alles bisher da gewesene zur Lappalie verkommen lässt:
Die Diagrammstellung zeigt eine Studie mit der Forderung ´Weiß am Zug hält remis´, was ungläubiges Erstaunen hervorruft, betrachtet man die Lösung. Diese besteht nämlich aus exakt einem Halbzug: 1.0-0-0. Die augenscheinliche Antwort von Schwarz, mit 1...Da1 matt zu setzen, wird von Weiss gekontert, indem er per 1.0-0-0 remis nach der 50-Züge Regel reklamiert.
Rochaden in Studien und Problemen sind erlaubt, wenn nicht zwingend bewiesen werden kann, dass mindestens eine der beiden Rochadefiguren schon gezogen haben muss. Wenn Weiß außerdem belegen kann, dass 50 Züge lang kein Bauer gezogen haben und kein Stein geschlagen worden sein kann, dann kann er sich direkt mit seinem ersten Zug den halben Punkt gutschreiben.
Wie soll das möglich sein? Die Studie gehört zu den sog. retro-analytischen Kompositionen, d.h. man muss die Vorgeschichte der ´Partie´ erforschen, um Aussagen über die Stellung treffen zu können. Als gedanklicher Vater dieser Sinnesverwirrung zeichnet Nikita Plaksin verantwortlich. Indem er durch 1.0-0-0 demonstriert, dass Ke1 und Ta1 niemals gezogen wurden, ist Weiß in der Lage zu beweisen, dass 50 Züge vorangegangen sind, ohne dass es einen Schlag- oder Bauernzug gegeben hat.
Entwirrt man die Figuren rückwirkend auf die schnellste Art, lässt Ke1 und Ta1 aber auf ihren Feldern stehen, würde es tatsächlich mindestens 50 Züge dauern, bis der 1. Schlag- oder Bauernzug erfolgt. Die Angabe des vollständigen Lösungsweges inkl. Erklärungen würde hier den Rahmen des Kapitels sprengen, es sei auf den Anhang verwiesen. Nur soviel: Die Stellungsstruktur, insb. die Bauernstruktur, sowie die Tatsache, dass Schwarz noch alle Steine sein eigen nennt, dass alle weißen Steine von Bauern geschlagen worden sein müssen, dass der schwarze Läufer von c8 nach g8 gekommen sein muss, dass der schwarze Läufer von f8 nach g3 gekommen sein muss, dass sich alle bewegten Türme auf der h-Linie, der 8.Reihe und der a-Linie aneinander vorbeidrängeln mussten, u.s.w., tragen dazu bei, dass mindestens 50 Züge bis zu den genannten Remiskriterien vorangegangen sein müssen.
Passend zur Kapitelüberschrift dauern speziell die Turm- und Läufermanöver schon etliche Züge, weil die Eckspringer sich nicht bewegen können. Tim Krabbé warnt in seinen Schachbesonderheiten Band 1 bei näherer Betrachtung dieser Position übrigens berechtigterweise vor Gesundheitsgefahren!