Wenzels Rösselsprung: 2.c2

Wenzels Rösselsprung: 2.c2

Frank Wenzel ist einer derjenigen Menschen, die zwar nicht gerne Schach spielen, aber trotzdem vom königlichen Spiel begeistert sind. Denn Schach bedeutet nicht nur Wettbewerb, sondern auch Geschichte, Kultur und Faszination. 

Die Serie "Wenzels Rösselsprung" ist ein Auszug aus dem Wenzels (nicht im Handel erhältlichen) Buch "64 berühmte Felder". 64 kleine Geschichten beleuchten jeweils ein Feld des Schachbretts anhand zweier berühmter Partien. Die Reihenfolge ergibt sich dabei aus dem Rösselsprung - der durchgehenden Route eines Springers auf allen 64 Feldern. 

Wenzels Rösselsprung: 2.c2

64 berühmte Felder ist Titel des Buches, und nun mag der kritische Leser fragen, wie wohl eine Spielunterlage berühmt sein kann? Und was heißt überhaupt berühmt?
Ein Feld ist schließlich beim Schachspiel lediglich eines von 64 Quadraten, das für sich genommen niemals als Teil eines Spiels betrachtet wird und zum schlichten einfarbigen Quadrat degradiert ist. Nur in bekannter 8x8-Formation wird es von beinahe jedermann sofort als Unterlage für Schachfiguren identifiziert, wenn Schwarz und Weiß sich in Symmetrie ablösen, wobei sie ihre wenig phantasievolle Farbgebung einzig dem Gedanken einer besseren Übersichtlichkeit zu verdanken haben; spielnotwendig ist die Zweifarbigkeit
des Spielbrettes keineswegs.

Ein Feld büßt bereits per Definition sämtliche Fähigkeiten und Ansprüche zur Berühmtheit ein; denn Berühmtheit verlangt hohen Bekanntheitsgrad und hohes Ansehen, für ein einzelnes Quadrat ein zu großer Anspruch, doch immerhin Antwort auf die zweite Frage.

Bleiben die Akteure, die durch geschickte Manöver ihrer Steine auf den Quadraten dem einen oder anderen irgendwie doch Berühmtheit angedeihen lassen. Nämlich immer dann, wenn der Betrachter jenes Manövrieren für besonders geschickt erachtet. Als Resultat ergibt sich im Idealfall hohes Ansehen jener Steineschieber, womit die Nähe zur Berühmtheit doch hergestellt ist, oder es schlägt um in die sogenannte traurige Berühmtheit. Jene missliche Lage, bei der sich ein Bekanntheitsgrad nicht durch gelungene Stellungsdiagramme verbessert, sondern durch sein genaues Gegenteil: Den Fehler. Die Schachblindheit. Den Blackout. Tagesgeschäft für den Amateur und seltene, deshalb aber um so bemerkenswertere Ausnahme für den Spitzenkönner.

Berühmtheit kann also durch Genieblitze ebenso gedeihen, wie durch den schlimmsten Fehler oder auch einmal durch kuriose Begleitumstände. Sie entsteht durch das Zusammenwirken von Spieler und Figur und bündelt sich letztendlich trotzdem oftmals in einem einzigen Quadrat. Der Unbedarfte bewundert je nach Gusto entweder die besondere Leistung oder nutzt sie zur Erklärung eigenen Versagens.

Vortrefflich eignen sich solche Züge, die für sich genommen zwar schon spektakulär sind, aber aufgrund ihrer Begleitumstände und Nebenwirkungen Kämpfe um den WM-Titel mitentscheidend beeinflusst haben. Im WM Kampf 1995 zwischen Anand als Herausforderer und Kasparow als selbsternanntem Titelträger einer neuen Organisation war es dem Inder Anand gelungen, in der neunten Partie den ersten Sieg des Matches zu verbuchen, um leider in der 10. Partie fröhlich ins offene Messer Kasparows zu laufen und jetzt in der 11. Partie vor diesem Problem zu stehen:



Hier stellte sich die Frage, was eigentlich dagegen spricht, den Tc5 per b-Bauern anzugreifen und anschließend selbigen mangels Fluchtfeld entweder mit Sb6 oder Sxe7 zu verspeisen. Die Antwort erhielt er von Kasparow!
Nach 28.b4? axb 29.axb Tc4 30.Sb6 Txb4+ 31.Ka3 sah die Position so aus:



Weiß scheint tatsächlich die Qualität gewonnen zu haben, zudem sind beide Türme angegriffen, und es ist schwerlich zu sehen, wie Schwarz fortkommen sollte. Des Rätsels Lösung lag in 31...Txc2!, und Anand blieb nichts anderes übrig, als seinem Gegner zum Sieg zu gratulieren und fluchtartig das Weite zu suchen. Die Idee des gezeigten ́Opfers ́ war also folgende: Kasparow ist keineswegs mit einer Figur im Nachteil, er gewinnt das Material erzwungenermaßen zurück und verbleibt mit zwei Bauern spielentscheidend im Plus! Auf 32.Txc2 gewinnt 32...Tb3+ 33.Ka2 Te3+ nebst Txe1. Mit zwei Mehrbauern war der Gewinn leicht zu realisieren.

Boris Spasski wird in diesem Buch nicht nur einmal auftauchen. Sein erster Auftritt zeigt ihn als amtierenden Weltmeister in einer Stellung, die ihm jene Berühmtheit eingebracht hat, auf die er gewiss gerne verzichtet hätte. Ludek Pachmann kommentierte den gleich folgenden Zug so: „Der Schnitzer des Jahrhunderts im Wettkampf des Jahrhunderts.“



Es begab sich im Jahre 1972, als Spasski im Begriff war, seinen Weltmeistertitel an Bobby Fischer einzubüßen. 5. Partie. Der Herausforderer hatte gerade seinen Springer auf f4 platziert und wollte nun 27.De3 mit De8 beantworten und den Bauern auf a4 erobern. Dass sein Springerzug der vorletzte der Partie sein würde, hat wohl selbst er nicht geahnt. Spasski griff mit 27.Dc2?? völlig daneben, so dass die Partie nach 27...Lxa4! beendet war. Ein vernichtendes Ablenkungsmanöver, das den Kampf sofort beendet. Weiß gab auf; er wollte
sich 28.Dxa4 Dxe4 29.Kf2 Sd3+ nicht mehr zeigen lassen.

Zwischenstand im Zweikampf um die Schachkrone war somit 2,5 : 2,5. Damit hätten eigentlich beide Seiten zufrieden sein können, doch der Weltmeister muss bereits jetzt weiche Knie bekommen haben. War er es doch, der die erste Partie gewonnen hat, die zweite kampflos – nach Fischers Protest gegen Fernsehkameras – zugesprochen bekam und nun, drei Partien später, seinen schönen, und in solchen Matches eigentlich schon vorentscheidenden Vorsprung eingebüßt hat. Mit dem kapitalen Bock 27.Dc2??.

Zu seiner Entlastung sei auf gute, weil prominente Gesellschaft bei schwersten Fehlern hingewiesen. Botwinnik ereilte die Schachblindheit im Jahre 1960 ebenso heftig, wie auch Karpow 1985 im Match gegen Kasparow von ihr geblendet wurde. Jeweils Fehler, die gewöhnlich nicht einmal geübten Clubspielern passieren.

Ursachenforschung ist also angesagt: Das immerwährende Schreckgespenst der Zeitnot schwebt häufig durch den Spielsaal. Ermüdungserscheinungen nach stundenlanger Konzentration mögen ebenso als Erklärung herhalten, wie das nachlassende Gespür für die Gefahr in vermeintlich simplen Stellungen, in denen man gedanklich schon auf andere Komplikationen fokussiert ist und uns, den Nicht-Anwärtern auf den Titel, das gute Gefühl vermitteln, in exzellenter Gesellschaft zu sein.

Exakt ergründen lässt sich Spasskis Fehler dennoch nicht. Spekulativ betrachtet mag es eine Mischung aus knapper Bedenkzeit (ihm verblieben für die restlichen Züge bis zur Zeitkontrolle nur noch 19 Minuten, während Fischer über 72 Minuten verfügte) und der Erkenntnis gewesen sein, dass er in dieser Partie ohnehin nur noch verteidigen wird. Ohnmächtig gegen das initiative Spiel Fischers hätte er in der Folge nur in der Defensive gestanden. Der Plan Fischers, seinen König nach c7 zu überführen und dann verstärkt Druck gegen den Bauern e4 aufzubauen, hätte von Spasski, wenn überhaupt, nur äußerst mühevoll bekämpft werden können.

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