Beim hochkarätig besetzten Masters in Prag Anfang März gewann nicht etwa Vincent Keymer oder eines der hochgepriesenen indischen Supertalente wie Gukesh oder Praggnanandhaa. Der Sieger hieß Nodirbek Abdusattorov aus Usbekistan. Mittlerweile ist Abdusattorov in der Weltrangliste sogar auf Platz vier vorgestoßen. Vor kurzem überholte er Ding Liren, den amtierenden Weltmeister.
Als Magnus Carlsen vor dem Freestyle Schachturnier in Weissenhaus gefragt wurde, welche Spieler er mit dabei haben möchte, bestand er laut Turniersponsor Jan Henric Buettner auf der Teilnahme eines Mannes: Abdusattorov. Ein bisschen erinnert das an den jungen Wladimir Kramnik, den Garri Kasparov 1992 bei der Schacholympiade in Manila entgegen vieler Widerstände in die russische Nationalmannschaft holte.
Wer also ist dieser Abdusattorov? Und was hat er an sich, dass Magnus Carlsen sich für ihn einsetzt?
Im September 2004 wird der kleine Nodirbek Fazliddin Ugli Abdusattorov in Taschkent geboren, der Hauptstadt der Republik Usbekistan. Das Schachspielen schaut er sich bei seinem älteren Bruder und der älteren Schwester ab. Bereits früh zeigt sich sein Talent, er gewinnt 2012 die U8-Weltmeisterschaft und wird zwei Jahre später Zweiter bei der U10 hinter Nihal Sarin. Mit 11 Jahren entert Nodirbek die TOP 100 Juniorenliste der FIDE, Im Alter von 13 Jahren erhält er den GM-Titel - als damals zweitjüngster Spieler aller Zeiten.
Den Durchbruch in die Weltspitze schafft Abdusattorov als 17-jähriger im Dezember 2021 bei der Schnellschach-WM in Warschau. Nach 13 Runden führt er gemeinsam mit Nepomniachtchi, Carlsen und Caruana das Feld an. Laut Reglement kommen zwei Spieler in den Tiebreak: Abdusattorov und Nepomniachtchi. Die erste Partie endet Remis, aber mit Weiß erringt Abdusattorov einen vollen Punkt - und krönt sich zum jüngsten Schnellschach-Weltmeister aller Zeiten. Alles getreu seinem Motto “Dreams come true”. In jüngeren Jahren nennt er Magnus Carlsen sein Idol, doch nun platziert er sich erstmals vor ihm. Auch im direkten Duell gegen Carlsen hat Abdusattorov die Nase vorn (Video).
2022 folgt ein Turniersieg beim stark besetzten Masters in Sharjah. Im Juli desselben Jahres beweist Abdusattorov, dass er auch ein Mannschaftsspieler ist. Mit dem erfahrenen Cheftrainer Ivan Sokolov und einem starken Abdusattorov an der Spitze wird die blutjunge Mannschaft Usbekistans sensationell Mannschafts-Olympiasieger.
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Ivan Sokolov, Winning Chess Middlegames
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Freilich ist das Glück bei der Olympiade maßgeblich auf der Seite der Usbeken: Der bis dahin überragend agierende Inder Gukesh erreicht gegen Abdusattorv eine gewonnene Stellung, verspielt dann aber seinen Vorteil und stellt zu allem Überfluss später noch die Partie durch einen Patzer ein:
...72. Db7+, und der weiße Springer ist Geschichte.
Usbekistans glückliches 2:2 gegen Indien 2 sowie ein knappes 2,5:1,5 in der letzten Runde gegen die Niederlande führen zum völlig unverhofften Gewinn der Goldmedaille.
Die goldene usbekische Mannschaft, Mitte stehend Abdusattorov (Bild: Stev Bonhage)
Abdusattorov erhält für seine individuelle Performance an Brett 1 die Silbermedaille. Der Präsident Usbekistans schenkt ihm und seinen Teamkollegen je 53.000 € und ein Auto. Die gesamte Mannschaft bekommt den Ehrentitel “Stolz von Usbekistan” verliehen. Im ganzen Land bricht ein neuer Schachboom aus. Die antike Stadt Samarkand führt die Blitz- und Schnellschach-WM 2023 durch und erhält den Zuschlag für die Schacholympiade 2026.
Bei der Wahl seiner Trainer hält sich Abdusattorov stets an Landsleute (Shkurov, Qayumov, später Yuldashev und Vohidov.). Im Oktober 2022 beginnt er eine Zusammenarbeit mit dem hierzulande bekanntesten Usbeken: Rustam Kasimdzhanov, FIDE-Weltmeister von 2004, ehemaliger Sekundant von Vishy Anand und Fabiano Caruana, kongenialer Partner von Jan Gustafsson bei chess24 und einer der größten Eröffnungsexperten der Welt.
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Rustam Kasimdzhanov, Spiele 4. Dc2 gegen Nimzoindisch (auf Englisch)
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Dass die Nerven auch einem Abdusattorov einen Streich spielen können, beweist er 2023 beim Tata Steel-Schachturnier in Wijk aan Zee. Dort schlägt er unter anderem sein Idol Magnus Carlsen, wird aber in der letzten Runde durch seine einzige Niederlage – gegen Jorden van Foreest – noch von Anish Giri auf Platz zwei verwiesen.
2024 nun aber der Sieg beim stark besetzten Masters in Prag, den sich Abdusattorov bereits eine Runde vor Schluss sichert.
In der laufenden Saison der Schachbundesliga ist Abdusattorov ebenfalls im Einsatz. In Viernheim steht er hinter Hikaru Nakamura auf Platz zwei der Setzliste. Er kommt bisher zu drei Siegen und zwei Remis.
Abdusattorovs Spielstil? Der “Indian Express” bezeichnet ihn als Boa constrictor - eine Schlange, die ihre Opfer mittels ihrer muskulösen Körperschlingen erdrückt. Auf der Homepage des Weissenhaus Freestyle-Turniers steht: "Am Brett spielt Abdusattorov mit erstaunlicher Reife. Er ist kein Feuerwerker, der Brücken abbricht und sich in Abenteuer stürzt. Von jugendlichem Ungestüm keine Spur. Technik und Kalkulation sind die großen Stärken, die er einbringt, um die Gegenspieler zu bearbeiten, bis sie einbrechen." Und sein Olympiacoach Ivan Sokolov ergänzt: "Sehr ähnlich zu Magnus Carlsen”.
Abdusattorovs Persönlichkeit lässt sich von außen sehr schwer beurteilen. Er wirkt wohltuend normal: nicht so introvertiert und unsicher wie Ding Liren, nicht so großspurig wie Niemann und nach Niederlagen nicht so emotional wie Carlsen. Je stärker Abdusattorov in die absolute Weltspitze vordringt, desto näher werden wir sicherlich seine persönliche Seite kennenlernen.
Auch ein Weltmeister Abdusattorov (und zwar im klassischen Schach!) ist gut denkbar, denn die drei in der Weltrangliste vor ihm liegenden Akteure Carlsen, Caruana und Nakamura gehören alle einer anderen Generation an. Doch ein bisschen gedulden muss sich der junge Usbeke noch. Fürs Kandidatenturnier 2024 hat er sich nicht qualifiziert. Die Schlagzeilen werden wohl vorerst wieder den jungen Indern gehören. Doch daran hat sich Abdusattorov längst gewöhnt. Eine Boa constrictor weiß genau, wann sie warten muss und wann ihre Zeit gekommen ist.
Titelbild:
https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=92048473, Lizenz CC BY-SA 4.0
Quellen: