Im Dezember 2021 interviewte Michael Busse Shredder-Programmierer Stefan Meyer-Kahlen für den Schachgeflüster Podcast. Im Februar 2022 erschien dann die Zusammenfassung des Interviews im Schachmagazin64.
Hier kommt der Interviewtext:
Stefan Meyer-Kahlen - Konstrukteur von Shredder
Stefan Meyer-Kahlen zählt zu den Pionieren der internationalen Schach-Programmierung. Sein Programm Shredder ist mit 19 gewonnenen Computerschach-Weltmeisterschaften das erfolgreichste Schachprogramm aller Zeiten. Sein Karrierehighlight erlebte er als Unterstützer von Wladimir Kramnik im Match gegen den Computer Deep Fritz. Schachgeflüster-Moderator Michael Busse hat den 53-jährigen Düsseldorfer interviewt.
Herr Meyer-Kahlen, Sie haben vor kurzem mal wieder ein Schachturnier „over the board“ mitgespielt, und zwar beim Heidelberger Schachherbst. Wie empfanden Sie die Atmosphäre, und wie lief es sportlich?
Meyer-Kahlen: Heidelberg war natürlich ein Highlight. Online spiele ich nicht so gerne, von daher war es schön, mal wieder am Brett zu spielen. Ich habe gegen ein paar Kinder gespielt, die echt richtig stark waren, zum Beispiel der deutsche U10-Meister. Gegen den konnte ich gerade noch so gewinnen - wahrscheinlich zum letzten Mal.
Dann lassen Sie uns doch über Shredder sprechen. Was umfasst Shredder eigentlich genau, und auf welchen Endgeräten kann man es nutzen?
Der erste Shredder kam 1995 raus. In der Regel erhält man als Käufer die Engine, aber auch die Benutzeroberfläche. Aktuell ist Shredder für Windows-PC, Mac, für Android, iPad und iPhone erhältlich.
Wie entstand Shredder eigentlich?
1978 habe ich meinen ersten Schachcomputer von meinem Vater geschenkt bekommen, ein Chess Champion MK1. Später an der Uni Passau habe ich dann mit einem Freund in einem Programmierpraktikum ein Schachprogramm geschrieben. Als Abnahme haben wir gegen den Professor gespielt und für unseren Sieg den notwendigen Schein bekommen.
Später wollte ich dann ein Schachprogramm als Diplomarbeit verfassen. Mein Professor aber meinte: „Herr Meyer-Kahlen, lassen Sie das. Die von Mephisto sind viel zu gut, da kommen Sie nie ran.“ Zum Glück habe ich mich davon nicht abhalten lassen.
Kommt der Name Shredder von dem bekannten Aktenvernichter?
Nein, ich hatte eine ganz andere Überlegung bei der Namensgebung. Früher war ich viel Windsurfen. Wenn man mit seinem Surfboard die Wellen abreitet, dann zerschreddert man die Welle. Die zweite Bedeutung, dass Shredder seine Gegner zerschreddern soll, kam dann erst später dazu.
Shredder wurde 19 Mal Schachweltmeister. Wie muss man sich denn so eine Computerschach-WM vorstellen?
Die WM sind mehr als nur ein Wettkampf. Man trifft sich immer vor Ort. Parallel findet meistens eine Messe oder Konferenz über Computerspiele statt. Ich mag den Austausch mit den anderen Programmierern sehr gerne. Computerschach-WM sind auch oft eine Leistungsshow, wer die beste Hardware hat. Denn das gleiche Programm auf einem besseren Computer bedeutet sofort eine höhere Leistungsstufe. Ich fliege dann immer mit Übergepäck um die Welt.
Das Erscheinen von Rybka 2007 hat das Kräftegleichgewicht der Schachprogrammiere verändert. Im Anschluss gab es aber Diskussionen darüber, ob Rybka vielleicht nur ein Plagiat der Engine „Fruit“ darstellt. Sie haben sich an einem offenen Brief gegen Rybka beteiligt. Wie war das damals?
Das ist die dunkle Zeit der Schachcomputergeschichte. Fruit war ein Open-Source-Programm, das einfach kopiert werden konnte. Ich will nicht sagen, dass Rybka nur abgekupfert war, aber jedenfalls basierte Rybkas komplettes Programm auf Fruit. Das war unsäglich. Durch die neuronalen Netze heute ist das Thema Plagiate leider noch aktueller geworden.
Das bringt mich auf das aktuelle Gerichtsverfahren zwischen Stockfish und Chessbase. Stockfish argumentiert, dass Fat Fritz 2.0 auf Stockfish basiere und Chessbase kein Recht habe, Fat Fritz 2.0 zu vertreiben. Auf welcher Seite stehen Sie?
Ich halte mich da komplett raus, ich habe Fat Fritz auch nicht. Generell muss man bei der Weiterverwendung von Programmen die Lizenz beachten. Bei Stockfish ist das so gestaltet, dass man Weiterentwicklungen offenlegen muss. Das nennt man GPL-Lizenz. Ich habe aber keine Ahnung, wie sehr Fat Fritz 2.0 auf Stockfish basiert. Bei solchen Fragen bewegt man sich immer auf einem schmalen Grat.
Deine Engine DeepShredder steht mittlerweile in der Schachcomputer-Weltrangliste mit einem Rating von 3356 Elo mehr als 200 Punkte hinter Leela. Ist die Sache für Sie als Einzelkämpfer gegen die Programmiererteams der Open-Source-Engines denn nicht aussichtslos?
Eigentlich schon. Um mit Leela und Stockfish mitzuhalten, fehlen mir mittlerweile auch die Motivation und die Rechenkapazitäten. Ich lege jetzt mehr Wert darauf, Shredder in Elostufen einstellen zu können und ihn menschlicher spielen zu lassen. Shredder ist inzwischen relativ gut darin, Dinge zu übersehen, die ein Spieler der definierten Elostärke auch übersehen würde. Shredder so zu optimieren macht mehr Sinn, als nochmal zehn Elo mehr rauszukitzeln.
Shredder 13 stammt ja aus dem Jahr 2016 und ist immer noch die aktuelle Version. Wann kommt Shredder 14 auf den Markt?
Angekündigt war´s schon ein paarmal. Aber ich möchte Shredder natürlich erst veröffentlichen, wenn ich wirklich soweit bin. Shredder 14 wird eine Bewertungsfunktion mit einem neuronalen Netz haben, die er selbst komplett gelernt hat. Ich bin weiter dran. Im ersten Quartal 2022 sollte es endlich mal passieren.
Sie sprachen von der Bewertungsfunktion. Die bildete ja jahrelang den wesentlichen Teil der Programmierung. Durch die selbstlernenden neuronalen Netzwerke können Sie nun im Prinzip Ihre ganze Programmierarbeit über Bord werfen, oder?
Das stimmt. Als AlphaZero rauskam und ich die Papiere gelesen habe, habe ich mir gedacht: „Das kann doch nicht funktionieren!“ Ich tune hier 20 Jahre lang meine Bauernstrukturen, und die kommen plötzlich mit selbstlernenden Engines um die Ecke. Das war schon ein harter Schlag. Andererseits fand ich es auch unfassbar faszinierend. Zuvor hatte ich Shredder solche elementaren Stellungen wie die Philidor-Position noch von Hand beigebracht.
Themenwechsel: Im Podcast “Let´s talk about chess” haben Sie über dein Karrierehighlight erzählt: nämlich Ihre Arbeit für Wladimir Kramnik in seinem Match gegen Deep Fritz 2006 in Bonn, das Kramnik letztlich mit 2:4 verlor. Eigentlich waren Sie als Computerexperte doch im falschen Team …
Im Prinzip schon. Die Aufgabe lag darin, Kramnik auf den Computer vorzubereiten. Insofern ergab das schon Sinn. Ich war mit Kramnik und Christopher Lutz mehrere Wochen lang im Trainingslager im Saarland. Das war eine sehr intensive Zeit, und Kramnik hat mir als Persönlichkeit imponiert. Er ist total nahbar. Und sein schachliches Wissen weist eine beeindruckende Tiefe auf. Vor ein paar Monaten habe ich übrigens erst erfahren, dass Peter Heine Nielsen im anderen Team war. Wir haben viel vorbereitet, was er durch seine Arbeit wieder zunichte gemacht hat.
Wie bereitet man einen Menschen denn auf eine Maschine vor? Wie sind Sie vorgegangen?
Ich habe Fritz oft gegen Shredder spielen lassen. Und wenn Fritz verloren hat und auch aus unserer Sicht typische Motive vorkamen, dann haben wir Kramnik die Partie gezeigt. Vor allem ging es um Eröffnungen und Stellungstypen, die Fritz vielleicht nicht versteht.
Kramnik hat ja dann diesen fürchterlichen Fehler gemacht und ein Matt in Eins übersehen. Wer hat mehr darunter gelitten, Kramnik oder Sie?
[Lacht] Kramnik! Ich habe erst gedacht: „Was ist denn jetzt los? Schon zu Ende?“ Aber im Ernst: Das war schon sehr merkwürdig, aber Kramnik hat es sportlich genommen. Die Niederlage hat dann dazu geführt, dass Kramnik in der letzten Runde etwas anderes probieren und die Najdorf-Eröffnung spielen wollte. Das hat uns in der Vorbereitung dann nochmal richtig ins Schwitzen gebracht.
Kasparov hätte ja 1997 eigentlich auch gegen Deep Blue gewinnen müssen. Gibt es zwischen den beiden Wettkämpfen Parallelen?
Ich glaube, mit Kasparov war das anders. Kasparov hatte schlichtweg Angst vor Deep Blue. Das Team von Deep Blue hat es vorher gut geschafft, einen Hype zu generieren. Das Kasparov-Team hielt Deep Blue für ein unbesiegbares Monster. Deshalb hat Kasparov auch komische Eröffnungen gespielt und ist von seinem normalen aktiven Spiel abgerückt. Nach dem Match wurden auch die Logfiles von Deep Blue veröffentlicht. Da konnte man sehen, dass Kasparov schachlich eigentlich überlegen war.
Hätte man statt Kasparov lieber Karpov antreten lassen sollen, weil er selbst wie eine Maschine spielt?
Ich bin mir nicht sicher, ob es einen Unterschied gemacht hätte. Kasparov kann auch positionell spielen. Die Topspieler können heute eigentlich alle alles.
Dann lassen Sie uns mal über etwas völlig anderes sprechen, nämlich den Chess Tutor. Wie funktioniert der Chess Tutor, und was haben Sie damit zu tun?
Der Chess Tutor ist die Softwareversion der Stappenmethode des Holländers Cor van Wijgerden. Die Heftchen dieser Methode sind sehr beliebt, und das nicht nur in Holland, sondern auch international. Die Methode ist sehr taktisch orientiert. Die ersten drei Hefte habe ich als Software programmiert, so dass man die Aufgaben am PC lösen kann. Auf shredderchess.de vertreibe ich das jetzt.
Zurück zu den möglichen Computern und negativen Effekten. Kennen Sie eigentlich den Namen Dewa Kipas?
Das war doch dieser Cheater, oder?
Genau. Ein indonesischer Schachspieler, der auf chess.com sensationell gegen den Streamer und IM Gotham Chess gewonnen hat. Nach Cheatingvorwürfen hat er dann behauptet, dass er durch das Trainieren mit Ihrem Shredder-Programm so stark geworden sei. Aber als er dann beweisen sollte, wie stark er wirklich ist, hat er versagt. Provokant gefragt: Haben uns die Engines das Cheating eingebrockt?
Na klar. Man hat schon früher Leute auf dem Klo erwischt, die mit Shredder auf ihrem Handy betrogen haben. Mir fehlt aber das komplette Verständnis für so etwas. Ich weiß doch, dass ich das nicht bin, wenn ich damit gewonnen habe. Aber das lässt sich nicht stoppen. Ich sehe eher die positiven Dinge, die uns die Computer gebracht haben. Heutzutage kann jeder seine Partie analysieren. Früher war das immer ein Schuss ins Blaue, wenn du nicht gerade einen Großmeister zur Hand hattest. Und auch auf die Topleute hat das Computerschach einen positiven, Horizont erweiternden Einfluss. Insgesamt überwiegen die Vorteile auf jeden Fall.
Man versucht ja, mit Künstlicher Intelligenz dem Cheating beizukommen. Müsste das kein Tätigkeitsfeld für Sie sein, an solchen Anti-Cheating-Algorithmen mitzuwirken?
Ja, damit habe ich früher auch mal experimentiert. Die Cheater Detection funktioniert auf Plattformen wie lichess und chess.com mittlerweile ziemlich gut. Man kann da mit Faktoren wie Fehlerquote und Abweichungen arbeiten. Oder wenn sich jemand plötzlich von 2000 auf 2500 Elo verbessert. Das geht einfach nicht ohne Cheating.
Mich würde noch Ihre Sichtweise auf elektronische Schachbretter interessieren. Damit soll man ja online Schach spielen können, aber trotzdem mit einem Brett vor sich statt am Bildschirm. Hast du Einblicke in den Markt?
Ich habe so ein Millennium Brett im Haus, und das ist schon eine coole Sache. Aber ich persönlich mag es noch viel lieber, wenn mir der Gegner gegenübersitzt. Diese Zweikampfstimmung kommt dann viel mehr auf.
Oder der Trash Talk im Training.
Absolut! So ein Vereinsabend mit Kumpels, bei dem man blitzt und Sprüche klopft, das ist doch am besten. Seit vier Jahren spiele ich auch wieder in der Mannschaft mit meinen alten Kumpels von früher. Dieses Zugehörigkeitsgefühl, das fehlt beim Onlineschach komplett. Die Quarantäneliga auf lichess zum Beispiel macht mir überhaupt keinen Spaß.
Die Schach-WM ist vor kurzem zuende gegangen. Wissen Sie, inwiefern Carlsen und Nepomniachtchi Computer einsetzen zur Eröffnungsvorbereitung und zur nachträglichen Analyse der Partien?
Mit SIcherheit setzen beide massiv Computer ein. Ich war selber 2008 bei dem Wettkampf Kramnik gegen Anand dabei. Natürlich nicht als Coach von Kramnik, aber ich habe seine Rechner besorgt und war für die Software zuständig. Kramnik hatte in seinem Hotelzimmer im Saarland auch immer einen Rechner dabei. Und das, obwohl er eigentlich eher konservativ war, was Computernutzung angeht. Mittlerweile ist das noch viel extremer geworden, wenn es stimmt, was man so hört.
Was hört man denn so?
Zum Beispiel dass viele die Datensicherheit als Problem ansehen. Theoretisch könnte man ja die Rechenzentren des Gegners infiltrieren.
Das heißt man muss als Schachprofi seine Dateien gegen Datenklau sichern?
Naja, man muss sich nur vorstellen, dass die ganze Vorbereitung beim Gegner landet. Das wäre schon ärgerlich. Computer können gehackt werden. Bei den beiden Teams von Carlsen und Nepo glaube ich jedoch nicht, dass das passiert ist. Aber solche Dinge gab es auch schon immer. Früher kursierten ja auch Gerüchte bei Wettkämpfen in Russland, dass die Hotelzimmer verwanzt gewesen seien. Da stellt sich immer die Frage von Wahrheit und Legende. Die WM als größter Wettkampf im Schach regt halt die Fantasie der Leute an. Und das ist auch gut so.
Herr Meyer-Kahlen, ich danke Ihnen für das Interview und wünsche alles Gute für die Zukunft. Und natürlich ein gutes Händchen für Shredder 14!
Danke, das kann ich gebrauchen.