Über GM Stefan Kindermann

Über GM Stefan Kindermann

Du liest Über GM Stefan Kindermann 13 Minuten Weiter Jennifer Shahade - die Kämpferin

Im Dezember 2022 interviewte Güven Manay den Großmeister Stefan Kindermann für den Schachgeflüster Podcast. Im April 2023 erschien dann die Zusammenfassung des Interviews im Schach-Magazin64.

Hier kommt der Interviewtext:

Mit dem Königsplan zum Erfolg

Unternehmertum und soziale Verantwortung gehen Hand in Hand. Wenige Menschen verkörpern das im Schach stärker als Stefan Kindermann. Der österreichische Großmeister und Schachbuchautor hat Elemente des Schachspiels in ein Modell überführt, mit dem man im Business mehr Erfolge erzielen kann: Den Königsplan. Zudem ist er Mitbegründer der Münchener Schachakademie und der Münchener Schachstiftung. 

Güven Manay vom interkulturellen Schachverein Satranç Club 2000 aus Köln hat Kindermann über die Schnittmengen zwischen Schach, Management und sozialem Engagement interviewt. Michael Busse von Schachgeflüster fasst die wichtigsten Aussagen zusammen. 

Herr Kindermann, Sie waren deutscher Nationalspieler und sind dann 2004 zum österreichischen Verband gewechselt. Wie kam es, dass Sie ein so starker Schachspieler wurden? 

Mit elf Jahren habe ich im Schullandheim eine Partie gegen einen Klassenkameraden verloren. Ich wollte mich unbedingt revanchieren und habe deshalb ein Schachbuch gekauft. Erst dadurch habe ich gemerkt, was für eine Welt an Abenteuern im Schach drinsteckt. Daraus ist dann eine große Leidenschaft geworden. Der Name meines Klassenkameraden lautete übrigens Königsbauer. So spät mit Schach anzufangen ist natürlich ein Handicap. Dadurch hatte ich nie Chancen auf die Weltspitze. Mein bester Stand war ungefähr Nummer 70 in der Weltrangliste. 

Sie haben ja einige Eröffnungsbücher verfasst, z.B. über die Winawer-Variante der französischen Verteidigung. Warum haben Sie ausgerechnet diese Eröffnung ausgewählt?

Französisch habe ich dreißig Jahre lang sehr intensiv gespielt. Die Winawer-Variante war immer eine Lieblingseröffnung von mir. Um das Jahr 2000 herum war ich Mitgründer der Internet-Schachfirma Chessgate AG und war dort für die Außendarstellung verantwortlich. Das Winawer-Buch habe ich damals gemeinsam mit dem Layouter Ulrich Dirr für Chessgate geschrieben. Es bekam hervorragende Rezensionen, aber kommerziell war es kein Erfolg. 

Ihr wichtigstes Buch ist sicherlich das Werk “Der Königsplan. Strategien für Ihren Erfolg”, das Sie zusammen mit dem Ehrenpräsidenten des Deutschen Schachbundes Robert von Weizsäcker verfasst haben. Wie sind Sie auf den Gedanken gekommen, über die Schnittmenge zwischen Schach und Business zu schreiben? 

Ich hatte schon lange den Traum, die Planungs- und Entscheidungsstrategien des Schachspiels in die allgemeine Welt zu heben und allen Menschen zugänglich zu machen. Das hat auch gut zu meiner Tätigkeit als NLP-Master und -Coach gepasst. Die Grundidee hinter NLP ist ja, zu analysieren, was Spitzenkönner in bestimmten Bereichen machen, und dies dann auf andere Felder zu übertragen. Es lag nahe, das Gleiche mit Schach zu versuchen. Gemeinsam mit Professor Robert von Weizsäcker haben wir ein kompaktes Strategiemodell erstellt, das man immer anwenden kann, wenn es um Analyse und Entscheidungen geht. Die Feedbacks sind sehr gut. Ich vermittle die Inhalte seit über 10 Jahren in Vorträgen und Seminaren. 

Würden Sie Schachspielern empfehlen, sich mehr mit solchen Themen wie Plan- und Entscheidungsfindung zu beschäftigen, wenn sie sich verbessern wollen? 

Absolut. Das war ja der Ausgangspunkt, wie ich zum Ende meiner Profizeit zum Königsplan gekommen bin. Ich habe realisiert, dass ich mich mit rein schachlichen Mitteln nicht mehr weiter verbessern kann. Meine Defizite lagen im schachpsychologischen Bereich. Deshalb habe ich mit NLP angefangen, um mich selber weiter zu verbessern. 

Aus welchen Elementen besteht denn der Königsplan im Einzelnen? 

Es gibt insgesamt sieben Stufen. Sie heißen: 

1. In Bestform beginnen

2. Ja zum Jetzt

3. Kreativer Kreislauf

4. Sinnvolle Suche

5. Zündende Ziele

6. Am Zeitstrahl zurück

7. Rentable Reflektion

An den Namen der Stufen merkt man sicherlich, dass ich ein Freund von Alliterationen bin. Ein Kerngedanke des Königsplans zieht sich durch alle Stufen durch: Die Kombination von rationalem Vorgehen mit intuitiven Kräften. Nur auf diese Weise gelingen optimale Entscheidungen. 

Wie kann man denn als Unternehmer konkret vom Königsplan profitieren? 

Das hängt natürlich von den spezifischen Herausforderungen ab, die man zu bewältigen hat. Es ist auch keineswegs so, dass man immer alle sieben Stufen braucht. Vielleicht mache ich es mal an einem Beispiel fest. Es kann passieren, dass ein ganzes Team gedanklich feststeckt und mit den üblichen Methoden nicht mehr weiterkommt. In diesen Fällen ist der kreative Kreislauf aus Stufe drei eine gute Möglichkeit, innovative Ideen zu entwickeln, die Hand und Fuß haben. An diesen Ideen kann man dann in der vierten Stufe weiterarbeiten. 

Und worum geht es in der ersten Stufe “In Bestform beginnen”? 

Die Bedeutung des eigenen Zustands wird im Business immer noch unterschätzt. Im Sport ist man da schon viel weiter. Neue Projekte anzugehen macht viel mehr Sinn, wenn man sich gerade in einer guten Form befindet. Dazu muss man erst einmal in sich selbst hineinhorchen. Wenn man herausfindet, dass man gerade müde ist, dann sollte man erst einmal etwas für sich selbst tun, bevor man eine neue wichtige Aufgabe übernimmt. Das ist im Business nicht anders als im Sport. 

Das Instrument des Perspektivwechsels kommt im Königsplan auch vor. Wie kann man dies im Business Kontext gewinnbringend einsetzen? 

Gerade in Konfliktsituationen ist der Perspektivwechsel ein wertvolles Instrument. Das Gute ist, dass der andere dafür nicht einmal anwesend sein muss. Mit etwas Coaching kann jeder dazu angeleitet werden, sich in die Perspektive des anderen hineinzuversetzen. Und zwar buchstäblich, das heißt man visualisiert diese Person auf einem anderen Stuhl und setzt sich dann in diesen Stuhl hinein. Und dann lässt man die Gefühle und Gedanken des anderen in sich selbst aufsteigen. Anschließend nimmt man eine Metaebene ein und überlegt, welche Ratschläge von außen man beiden Personen geben kann. Letztlich kann man unternehmerisch nur erfolgreich sein, wenn man die Fähigkeit hat, die Motive und Werte der anderen zu erkennen und deren Handlungen vorauszusehen. 

Das hört sich schwierig an. 

Das liegt daran, dass Perspektivwechsel ein Schnittpunkt ist. In Zeiten des Internets kann jeder viele Informationen über den anderen einholen. Aber um mich wirklich in den anderen hineinzuversetzen, brauche ich die Kraft der Intuition. Erst wenn ich das zusammenbringe, habe ich bestmögliche Chancen, das Verhalten des anderen zu verstehen. Das Verstehen bedeutet noch nicht, dass ich damit auch einverstanden bin. Aber es erhöht meine Chancen, mich so zu verhalten, dass ich den anderen abholen kann. Gerade bei allen Formen der Verhandlungsführung ist das von entscheidender Bedeutung.  

Welche konkreten Unternehmen haben denn schon Interesse am Königsplan gezeigt? 

Im Laufe der Jahre waren es viele renommierte Unternehmen wie z.B. Siemens, BMW, Lufthansa Cargo, E.ON, Microsoft Schweiz oder Roche. Ich bin aber auch Referent für die Bayerische Staatskanzlei und verschiedene Ministerien. Die Rückmeldungen zum praktischen Nutzen für die Teilnehmer waren immer erfreulich gut, auch wenn natürlich viele Nicht-Schachspieler dabei waren. Das zeigt, dass die Grundidee des Königsplans des Königsplans gut funktioniert: Nämlich die besten Denk- und Mentalstrategien aus dem Denken der Schachgroßmeister für Planen und Entscheiden im Allgemeinen zu nutzen. 

Zuletzt waren Sie als Vortragender bei einer Veranstaltung von Judit Polgar tätig. Worum ging es da genau? 

Judit Polgar organisiert das Global Chess Festival, bei dem Kinderschach eine große Rolle spielt. Ich habe dort den Königsplan für Kinder vorgestellt. Ursprünglich wurde er  ja für Führungskräfte entwickelt. Aber wir wenden das Modell seit einigen Jahren auch für Kinder an. Wir haben über 1000 Schüler in sozialen Brennpunktschulen in München, die wir unterrichten. Die Kinder bekommen dazu ein Werkzeug an die Hand, mit dem sie Erlebnisse wie Stress auf dem Schulhof bewältigen können. Der Perspektivwechsel ist zum Beispiel ein solches Instrument, das ja dem Schach entstammt. Über den Königsplan für Kinder verfasse ich zurzeit auch gemeinsam mit meiner Kollegin WIM Veronika Exler ein Buch.  

Kann der Königsplan den Kindern auch bei den Schulaufgaben helfen?

Ja, denn im Laufe der Zeit lernen sie auf diese Weise Denkstrategien, die sie in verschiedensten Bereichen ihres schulischen Alltags nutzen können. Das betrifft zum Beispiel auch das erfolgreiche Lösen von Textaufgaben in Mathe. Das Konzept hat sich schon vielfach bewährt. 

Sie sind ja Mitbegründer der Münchener Schachakademie und der Münchener Schachstiftung. Welche Ziele verfolgen Sie mit den beiden Einrichtungen? 

Die Schachakademie ist die ältere von beiden, sie ist jetzt 17 Jahre alt. Die Idee dahinter ist, Schachtraining und -unterricht auf hohem Niveau anzubieten. Später hat sich dieser Ansatz um das Königsplan-Modell für Kinder erweitert. Die Stiftung kam zwei Jahre später dazu. Wir sprechen dort Zielgruppen an wie Kinder in sozialen Brennpunkten, kranke Kinder, Flüchtlingskinder und auch bedürftige Senioren.

Wie finanziert sich denn die Schachstiftung? 

Der Dank gilt an dieser Stelle zuallererst an meinen Freund Roman Krulich, der ein sehr erfolgreicher Unternehmer ist und der Stiftung finanziell auf die Beine geholfen hat. Roman ist seit vielen Jahren einer der wichtigsten Schachförderer in Deutschland und hat unter anderem mit seiner Krulich Immobilien Gruppe das Grand Prix Turnier der Damen im Februar ermöglicht - das hochkarätigste Turnier in München seit 30 Jahren. Jedenfalls war es ihm ein Anliegen, benachteiligte Kinder zu unterstützen, die sich unsere Kurse nicht leisten können. Daneben finanzieren wir uns auch über Spenden. Die Hälfte meiner Arbeitstätigkeit besteht inzwischen im Fundraising für die Stiftung. Über weitere Förderer würde ich mich freuen, weil das eine wichtige soziale Arbeit ist. 

Sie wollen die Münchener Schachstiftung mit einer Spende unterstützen? 

Spendenkonto: IBAN DE88 7019 0000 0002 2044 44

Kennwort: Schachmagazin64

Schach kann ja auch hervorragend zur interkulturellen Verständigung eingesetzt werden. Engagieren Sie sich auch in diesem Bereich? 

Absolut. Wir kooperieren zum Beispiel mit der SchlaU-Schule, einer Schule für unbegleitete Flüchtlinge im Alter von 16-24, die für den Berufseintritt vorbereitet werden. Wir geben den Jugendlichen mithilfe von Schach bestimmte strategische Tools an die Hand, die ihnen für ihre Karriere nützlich sind. Einmal haben wir unter dem Motto “Schach dem Vorurteil” ein Turnier mit den Jugendlichen und mitUnternehmern aus dem Umfeld veranstaltet. Dadurch sind einige Praktika vermittelt worden. 

Haben Sie selbst dadurch auch neue Kontakte geknüpft? 

Ja, meine Frau und ich haben durch dieses Projekt eine junge Äthiopierin kennengelernt. Sie hat ihre Familie verloren. Wir übernehmen schon länger für sie eine Art informelle Betreuerrolle. Inzwischen sind wir für sie so etwas wie ein Familienersatz geworden. Zuletzt haben wir auch Kontakt zu einer afghanischen Schachspielerin bekommen. Wir haben dazu beigetragen, sie aus Kabul zu retten und nach Deutschland zu bringen. 

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Themawechsel: Wie ist Ihre Sichtweise auf die Kontroverse Carlsen-Niemann und das Cheating-Thema? 

Ich muss zugeben, dass ich schon etwas geschockt war. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, dass das Online-Cheating auch im Spitzenbereich unter den TOP 100 so verbreitet ist. Erlebt habe ich es selber natürlich auch, dass ich bei chess.com Punkte gutgeschrieben bekommen habe dank der dortigen Analysetools. Beim Spielen am Brett ist das Cheaten natürlich viel schwieriger. Von einem israelischen Schachspieler habe ich neulich gehört, dass es auch dort Möglichkeiten mit Hilfe von Google Lens gibt. 

Was kann man gegen Cheating tun? 

Hilfreich ist sicherlich die zeitverzögerte Übertragung, die eine sinnvolle Kommunikation mit einem Helfer von außen erschwert. Das Problem ist, dass es fast immer bei Indizienbeweisen bleiben wird, wie auch im Fall von Niemann. Wenn man aber mehrfach Verdächtige nur aufgrund von hohen Wahrscheinlichkeiten verurteilt, dann wird man damit auch Unschuldige erwischen. Es kommt ja noch dazu, dass ein starker Spieler in einer einzelnen Partie auch mal fast perfekt spielen kann. Das muss ja noch kein Betrug sein, zumal das allgemeine Niveau angestiegen ist. Das ist ein sehr schwieriges Thema, ich habe keine eindeutige Haltung dazu. 

Und die Klage von Niemann? 

Sie macht auf jeden Fall Sinn, wenn er unschuldig ist. Wenn er schuldig wäre, wäre es schon ein starkes Stück. 

Auf welche Leistung in Ihrer eigenen Spielerkarriere sind Sie besonders stolz? 

Ein Höhepunkt war sicherlich mein dramatisches Match gegen den damaligen US-Champion Alex Yermolinsky in der 1. Runde der K.O.-WM 1997. Er war mir damals auf der Papierform überlegen. Nach klassischen Partien stand es 1:1, genauso im Schnellschach. Im Blitz habe ich es dann geschafft, all meine Ressourcen zu aktivieren und zu gewinnen. 

Und welche Negativerlebnisse gibt es? 

Eine ganze Menge. Aber da hilft die siebte Stufe des Königsplans, rentable Reflektion. Ich versuche, aus Misserfolgen das Maximale herauszuziehen. Eine wichtige Partie gegen Rafael Vaganian aus der Bundesliga mit der Plauener Mannschaft fällt mir dort ein. Ich hatte eine klare strategische Gewinnstellung. Irgendwann habe ich erfahren, dass wir das Spiel gegen Köln-Porz gewinnen, wenn ich es schaffe, die Partie heimzubringen. Leider habe ich dann ungefähr jeden mentalen Fehler begangen, den man sich vorstellen kann. Ich habe viel zu ängstlich gespielt und unnötig Bedenkzeit verbraucht. Und dann habe ich auch noch eine riesige Lücke in meiner Kalkulation gehabt, die Vaganian ausgenutzt hat. 

Welche Lehre kann man aus einem solchen Erlebnis ziehen? 

Zum Beispiel wie man sich verhält, wenn man knapp davor ist, etwas zu schaffen. Das kann man im Geschäftsleben auch wunderbar auf den Vertrieb projizieren. Ich nenne das “die Klippe der Angst”. Damit ist gemeint, dass ich in klar besserer Stellung bzw. kurz vor dem Vertragsabschluss plötzlich Angst habe, alles falsch zu machen, und vor Angst erstarre. Dann gibt es noch “die Klippe der Gier”. Das bedeutet, dass ich im entscheidenden Moment zu viel Druck ausübe und dadurch alles kaputtmache. Wenn man kurz vor dem Erfolg ist, sollte man sich daher fragen, auf welcher der beiden Klippen man gerade steht, und dann bewusst gegensteuern. 

Welche psychologischen Faktoren bei einem Schachspiel gibt es noch? 

Ein häufiges Motiv ist auch, dass man sich zu früh auf eine Idee fixiert. Je mehr Zeit und Energie man darin investiert hat, desto schwerer fällt es, zurückzurudern. Man nennt das die “sunk cost fallacy”. Das stellt eine gefährliche Planungsfalle dar, im Business wie auch im Schach. Weitere Faktoren sind zum Beispiel die innere Haltung, das Spielen gegen stärkere Gegner und das Spielen in Zeitnot. Diese Themen behandle ich auch in meiner ChessBase-DVD “Der Königsplan zum Turniererfolg”. Wenn man sich mit all dem beschäftigt, dann kann man für die praktische Spielstärke einiges profitieren. 

Vielen Dank für das interessante Interview!


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