Im Dezember 2022 interviewte Lilli Hahn die iranische Schachschiedsrichterin Shohreh Bayat für den FIDE-Podcast. Im März 2023 erschien dann die Zusammenfassung des Interviews im Schach-Magazin64.
Hier kommt der Interviewtext:
Shohreh Bayat - Schiedsrichterin aus Leidenschaft
Die internationale Topschiedsrichterin WFM Shohreh Bayat stammt aus dem Iran. Bekannt wurde sie dadurch, dass sie sich Drohungen des iranischen Regimes und der Medien widersetzte. Aktuell lebt sie in England, weil ihr eine sichere Heimkehr in den Iran nicht mehr möglich ist. Shohreh Bayat war bis vor kurzem Teil der FIDE-Schiedsrichterkommission, bis FIDE-Präsident Arkady Dvorkovich sie aus der Kommission entfernen ließ. Das politische Engagement von Bayat und ihr offenes Bekenntnis zu Frauenrechten war in der FIDE nicht mehr gewünscht.
Noch vor dieser Degradierung führte Lilli Hahn von der ChessSports Association ein Interview mit Shohreh Bayat für den FIDE Podcast. Nach dem Interview entspann sich in der FIDE eine Diskussion über die Veröffentlichung. Nur dank der Fürsprache von Geschäftsführerin Dana Reizniece-Ozola durfte die Episode publiziert werden. Michael Busse von Schachgeflüster fasst die wichtigsten Aussagen zusammen.
Frau Bayat, vielen Dank für Ihre Bereitschaft für dieses Interview! Welche Rolle nimmt der Schachsport in Ihrem Heimatland Iran und in England ein?
In beiden Ländern ist Schach sehr beliebt. Wir Iraner glauben ja, dass wir das Schach in der Zeit des persischen Reiches erfunden haben. Wir wissen aber, dass das aufgrund der indischen Urformen des Schachs diskutabel ist. Hier in England ist Schach zurzeit sehr populär. Momentan finden viele Turniere statt.
Was war Ihr größter Erfolg als Spielerin bisher?
Ich bin recht stolz darauf, dass ich im Iran in allen Altersklasse von der U12 bis zur U20 jedes Jahr eine Medaille erringen konnte. Das ist eine schöne Serie. Auch dass ich sowohl die iranische als auch die englische Nationalmannschaft vertreten durfte, macht mich glücklich.
Durch das Schachspiel konnten Sie viele internationale Turniere besuchen. Sind Sie dadurch persönlich gereift?
Schach hat für die Entwicklung meiner Persönlichkeit eine große Rolle gespielt. Vor allem aber vermittelt Schach viele Gelegenheiten zu reisen. Reisen bildet, es erweitert unseren persönlichen Horizont. Schach hat mir auch geholfen, besser zu planen, ausgewogene Urteile zu treffen, kritisch zu denken und vieles mehr. Es ist unmöglich, alle positiven Eigenschaften des Schach in einem Satz aufzuführen.
Kritisches Denken, inwiefern ist das für Sie wichtig?
Ich komme aus einem Land, in dem Frauen in ihren Rechten eingeschränkt sind. Schach war somit für mich eine einzigartige Möglichkeit, andere Kulturen kennenzulernen und verschiedene Gesellschaften miteinander vergleichen zu können.
Wie kam es, dass Sie sich für das Schiedsrichterwesen interessierten?
In meiner Kindheit war ich bei Turnieren war oft das einzige Mädchen und hatte niemanden zum Unterhalten. Ich saß also rum und schaute den Schiedsrichtern zu, wie sie die Paarungen zusammen stellten. Das interessierte mich sehr. Sobald ich 18 wurde, durfte ich meinen Schiedsrichterschein absolvieren. Danach folgten weitere Schiedsrichterkurse über die FIDE, und das Thema ließ mich nicht mehr los.
Welche Aufgaben muss ein Schiedsrichter bei einem Schachturnier übernehmen?
Das lässt sich in drei Phasen aufteilen. Vor dem Turnier geht es darum, die Paarungen zu ermitteln und den Spielort zu inspizieren. Während des Turniers müssen wir die Befolgung der Regeln und Anti-Cheating-Maßnahmen kontrollieren. Danach müssen wir dann die Ergebnisse veröffentlichen, damit die neuen Ratings ermittelt werden können.
Die Rolle des Schiedsrichters wird im Zuge der Cheatingproblematik immer wichtiger und sichtbarer, gerade im Onlineschach. Teilen Sie diese Einschätzung?
Auf jeden Fall. Obwohl wir ja eigentlich sagen, dass der beste Schiedsrichter derjenige ist, den man gar nicht bemerkt. Schiedsrichter sind sehr nah an den Spielern dran. Wir wollen dabei niemanden vom Spielen abhalten oder ihn behindern. Trotzdem müssen wir natürlich alles beobachten. Aufgrund der Schachcomputer ist es wichtig, jeden Spieler immerzu im Blick zu behalten, damit alles fair zugeht.
Was gefällt Ihnen daran, Schiedsrichterin zu sein?
Ich habe mich schon immer an Regeln und Vorschriften gerieben. Ich kann über einen einzigen Satz im Regelwerk stundenlang diskutieren. Was sagt er, was bedeutet er? Außerdem schaue ich einfach gerne bei Schachpartien zu. Mir gefällt auch die Umgebung. Bei einem Schachturnier fühle ich mich einfach wohl.
Sie hatten schon Schiedsrichtereinsätze bei der Schacholympiade, der Frauen-Schach-WM und bei renommierten Turnieren wie den London Chess Classics. Was fehlt Ihnen noch in Ihrer Sammlung?
Ich bin eigentlich schon recht zufrieden, wie es bisher gelaufen ist. Meine Ambitionen gehen eher darin, mich immer auf dem aktuellen Stand zu halten. Außerdem erstelle ich Lehrdokumente für Schiedsrichter. Ich arbeite in der FIDE-Schiedsrichterkommission mit und trage Verantwortung für das FIDE Arbiters´ Manual.
Das heißt, Sie halten die Regeln aktuell?
Nein, die Regeln werden von uns nicht verändert. Aber wir erarbeiten Auslegungshilfen und Anwendungsbeispiele für Schiedsrichter. Wichtig ist immer, den Sinn und Zweck einer Regelung zu verstehen. Daneben organisieren wir auch Seminare für Schiedsrichter. Während der Pandemie lag ein Schwerpunkt darauf, das Schiedsrichterwesen auf Online-Turniere auszurichten. Persönlich geht es mir auch darum, mehr Frauen den Zugang zum Schiedsrichtertum zu ermöglichen.
Wie können Sie das erreichen?
Die FIDE kann nur einen Teil dazu beitragen. Letztlich ist das vor allem eine Aufgabe der National- und Kontintentalverbände. Iran gehört zum Beispiel zum asiatischen Kontinentalverband. Früher durfte ich zwar im Iran Schiedsrichtereinsätze absolvieren, bekam aber in anderen Teilen Asiens keine Gelegenheit dazu. Der asiatische Schachverband ist stark männerdominiert. Hier in Europa erhalte ich dagegen viele Turniereinladungen. Es geht einfach darum, mehr Möglichkeiten für Frauen zu eröffnen.
Im Jahr 2020 waren Sie Hauptschiedsrichterin des WM-Kampfes der Frauen. Ihr Leben hat sich durch diesen Einsatz schlagartig geändert. Es tauchte ein Foto auf, auf dem es so aussah, als würden Sie kein Kopftuch tragen. Im Iran kam es daraufhin zu einer großen Kontroverse. Was geschah genau?
Was dort passierte, habe ich überhaupt nicht erwartet. In Wahrheit habe ich ein Kopftuch getragen. Es war nur aus dem Winkel, von dem aus das Foto geschossen wurde, nicht gut sichtbar. Die iranischen Medien haben mich daraufhin verurteilt und verlangten eine öffentliche Entschuldigung. Auch der iranische Schachverband hat mich stark unter Druck gesetzt. Für mich war klar, dass ich nicht gegen meine eigene Überzeugung handeln konnte. Deshalb trug ich das Kopftuch danach nicht mehr.
Wie kam das bei den Menschen im Iran an?
Für das iranische Volk ist die persönliche Entscheidungsfreiheit unheimlich wichtig. Viele Leute glauben, dass das Kopftuch zur iranischen Kultur gehört. Aber das stimmt nicht. Heute bin ich überzeugt, dass mein Handeln damals richtig war.
Es ist bewundernswert, dass Sie aus Überzeugung eine für Sie so gefährliche Entscheidung getroffen haben. Stimmt es, dass Sie nicht mehr in den Iran zurückkehren konnten?
Ja, das ist korrekt. Mein Flugticket nach Teheran habe ich verfallen lassen. Ich freue mich aber sehr, dass ich jetzt in Großbritannien bin. Denn das ist ein Land, in dem Menschenrechte und Frauenrechte respektiert werden. Ich erhalte viel Unterstützung von den Menschen hier, insbesondere aus meiner Schachfamilie. Ich glaube, ich habe großes Glück, Schachspielerin zu sein und eine Schachfamilie zu haben.
In Großbritannien sind Sie gleich gut integriert und für das englische Nationalteam nominiert worden.
Das ging wirklich nahtlos. Wir sagen immer, dass wir eine Familie sind, das ist das Motto der FIDE. Aber ich habe dieses Motto erst wirklich verstanden, als ich hierher gezogen bin. Mir haben hier Leute eine Unterkunft angeboten, die ich nicht einmal kannte. Letztlich bin ich bei zwei Schachschiedsrichtern eingezogen. Das war sehr lustig. Mittlerweile wohne ich in London. Hier arbeite ich für den englischen Schachverband und für das Programm “Chess in Schools and Communities” von Malcolm Pein. Kindern Schach beizubringen ist für mich der beste Job auf der Welt.
Worauf wollen Sie sich künftig fokussieren?
Ich tanze gerne auf mehreren Hochzeiten. Wann immer ich kann, spiele ich selbst Schach. Zudem organisiere ich Turniere und gebe Training. Das Schiedsrichterwesen genießt bei mir immer noch oberste Priorität. Aber Schach gibt uns die Möglichkeit, in vielen unterschiedlichen Bereichen tätig zu sein. Das ist doch das Schöne.
Derzeit ist der Iran im Aufruhr. Es gibt starke Proteste gegen das Regime. Ihre persönliche Geschichte wurde inzwischen von vielen Medien aufgegriffen. Wie sehen Sie aktuell Ihre Rolle?
Durch diesen Vorfall, der in meinem Leben passiert ist, habe ich auch eine große Verantwortung übertragen bekommen. Es ist unabdingbar, sich für Frauenrechte und Menschenrechte im Allgemeinen einzusetzen. Es ist für mich schrecklich zu akzeptieren, dass im Iran unschuldige Leute getötet werden, weil sie sich für ihre elementaren Rechte einsetzen. Ich denke jeden Tag darüber nach und setze meine Bekanntheit dafür ein, den iranischen Frauen eine Stimme zu geben.
Ihr Einsatz wurde bereits im Jahr 2020 mit dem “International Woman of Courage Award” ausgezeichnet. Was empfinden Sie dabei?
Auf der einen Seite bin ich sehr stolz darauf. Auf der anderen Seite gibt es viele mutige Menschen im Iran, die diesen Award mindestens genauso verdient hätten. Ich habe ihn aber trotzdem angenommen, um die Iranerinnen und Iraner in aller Welt zu ermutigen, die Botschaft von Freiheit und Frieden zu verkünden.
Zurück zu Ihrer Rolle als Schiedsrichterin. Bereiten Sie sich eigentlich in besonderem Maße auf ein Turnier vor oder haben Sie irgendwelche Rituale?
Vor jedem Turnier lese ich mir noch einmal die Schachregeln durch. Ich weiß nicht, wie oft ich das schon gemacht habe, aber ich zwinge mich jedesmal erneut dazu. Außerdem lese ich mir die Regularien des speziellen Turniers durch, damit ich gut vorbereitet bin.
Gibt es ein besonders erwähnenswertes Vorkommnis in Ihrer Schiedsrichterfunktion?
2022 beim Rapid & Blitz in Polen gab es einige Spieler mit positivem Coronatest. Wir mussten dann die Runde mehrere Stunden lang anhalten, damit sich alle Spieler testen konnten. Das war schon eine bizarre Situation. Sowas lernt man nicht im Schiedsrichterkurs.
Wie ist es eigentlich, bei Online-Turnieren Schiedsrichter zu sein? Unterscheidet sich das stark vom Schach am Brett?
Anfangs war das für uns unbekanntes Terrain, zumal es so viele unterschiedliche Onlineplattformen gab. Jede Plattform hat ihre eigene Struktur. Aber vielen von uns hat das Online-Schach in der Pandemie geholfen. Daher sehe ich das positiv. Es gibt aber immer wieder neue Herausforderungen, zum Beispiel Fischer Random Chess.
Ist es nicht manchmal ermüdend, anderen beim Spielen zuzusehen?
Überhaupt nicht. Wenn du deinen Job liebst, dann genießt du jede Sekunde. Es gibt auch ständig etwas zu tun. Online muss man zum Beispiel ständig die Augenbewegungen der Spieler im Blick haben, ihren Desktop überprüfen und vieles mehr. Langweilig wird mir dabei nie.
Sollten überführte Online-Cheater aus Ihrer Sicht auch Sperren für das Schach am Brett erhalten?
Das ist eine schwierige Frage. Für mich gibt es da schon noch einen Unterschied. Manche Plattformen sperren einen Spieler, können aber nicht sicher nachweisen, dass der Spieler gecheatet hat. Solange solche statistischen Ergebnisse nicht zu 100 Prozent aussagekräftig sind, sollten wir Sperren nicht auf das Schach am Brett ausdehnen.
Haben Sie selber schon einmal einen Cheater überführt?
Ich musste einige Spieler in unterschiedlichen Turnieren disqualifizieren, zum Beispiel auch bei der Online-Olympiade. Vor allem aber passiert das bei Jugendturnieren - leider. Manchmal liegt es auch daran, dass die Eltern die Kinder zu stark unter Druck setzen. Die Kinder wollen ihre Eltern nicht enttäuschen und betrügen deswegen. Wir müssen deshalb die junge Generation und die Eltern stärker über die Konsequenzen von Cheating aufklären.
Kommt Cheating am Brett genauso oft vor wie online?
Nein, persönlich habe ich das auch noch gar nicht erlebt. In Thailand habe ich mal ein Handy in der Toilette gefunden. Der Spieler hatte mitten in der Partie bemerkt, dass er aus Versehen sein Handy bei sich hatte. Um nicht erwischt zu werden, wollte er das Handy verstecken. Wir haben uns dann die geöffneten Tabs zeigen lassen. Es war keine Schach-App dabei, so dass wir nicht von einem Betrugsversuch ausgehen mussten.
Wie hätte der Spieler in diesem Fall korrekt gehandelt?
Das ist schwierig. Wenn er offen mit dem Handy zu den Schiedsrichtern gekommen wäre, hätte man ihn im Prinzip disqualifizieren müssen. Ich denke, dass wir unsere Regeln an solchen Stellen überarbeiten müssen. Manchmal sind sie zu streng. Ich bin auch immer dafür, dass Schiedsrichter mehr Entscheidungsspielraum erhalten sollen.
Sie haben ja auch eine akademische Karriere hingelegt. Was haben Sie studiert?
Ich habe einen Master in Natural Resources Engineering und habe auch einige wissenschaftliche Artikel geschrieben. Übrigens habe ich mich auch an einer deutschen Uni beworben und wurde sogar akzeptiert. Aber gleichzeitig bekam ich das Angebot, als Generalsekretärin des iranischen Schachverbandes zu arbeiten. Das habe ich dann angenommen. Meine wissenschaftliche Karriere musste ich dann leider aufgeben.
Wie sah Ihre Arbeit für den iranischen Schachverband aus?
Zum Beispiel habe ich Schachartikel für Webseiten verfasst und Regularien und Vorschriften übersetzt. Damals gab es im ganzen Iran auch nur eine einzige Person, die sich mit Liveübertragungen auf elektronischen Brettern auskannte. Das habe ich mir zeigen lassen, was mir eine ganz neue Welt erschlossen hat.
Zum Ende des Interviews noch eine Frage zum Frauenschach im Allgemeinen. Was muss der Weltschachverband FIDE tun, um das Frauenschach zu fördern?
Die FIDE braucht sowohl kurzfristige Maßnahmen als auch eine langfristige Strategie. Es ist gut, dass 2022 das Year of Woman in Chess war, aber es muss weitergehen. Dazu braucht es ein Konzept und ein gemeinsames, nachhaltiges Vorgehen.
Vielen Dank Frau Bayat und alles Gute!