Im Februar 2023 interviewte Chess Tigers-Mitarbeiter Michael Busse den Großmeister Gerald Hertneck. Im Juli 2023 erschien dann die Zusammenfassung des Interviews im Schach-Magazin64.
Hier kommt der Interviewtext:
Gerry Hertneck ist Großmeister und sechsfacher deutscher Mannschaftsmeister mit Bayern München. Zudem ist er Mitgründer der Münchener Schachakademie und im Vorstand der Münchener Schachstiftung. Aktuell engagiert er sich im Deutschen Schachbund als Referent für Leistungssport. Als Spieler ist er amtierender deutscher Vizemeister im Blitzschach und Kapitan der Mannschaft des Münchener Vereins MSA Zugzwang. Michael Busse von Schachgeflüster sprach mit Hertneck über seine Karriere und über die Situation des Spitzenschachs in Deutschland.
Herr Hertneck, im Februar fand in München direkt vor Ihrer Haustür ein internationales Spitzenevent statt, nämlich der FIDE Frauen Grand Prix. Ich nehme an, Sie haben sich das Turnier nicht entgehen lassen?
Das stimmt. Ich fand es besonders schön, mal ein reines Frauenturnier zu sehen. Es war ein sehr edles Ambiente. Die FIDE, das Hotel Vier Jahreszeiten und Stefan Kindermann haben das wirklich schön umgesetzt.
Die FIDE steht aktuell jedoch sehr in der Kritik, beispielsweise wegen ihrer Verflechtungen zum russischen Regime. Man hat gehört, dass der Deutsche Schachbund bei diesem Turnier seine Distanzierung zur FIDE ausgedrückt hat. War das zu spüren?
Ich muss vorausschicken, dass ich sehr ungern über Schachpolitik rede, weil man da sehr schnell zwischen die Mühlen gerät. Aber eins kann ich verraten: Der FIDE-Präsident Dvorkovich war ja auch beim Charity-Event, und dort hat man seitens des Deutschen Schachbundes auf Abstand geachtet.
Sie sind Referent für Leistungssport beim DSB. Welche Aufgaben und Entscheidungsspielräume haben Sie dort?
Diese Frage wird mir oft gestellt. Als Referent für Leistungssport bin ich Vorsitzender der Kommission Leistungssport. Ich bin verantwortlich für die Kadernominierungen der Männer und Frauen und stelle gemeinsam mit Sportdirektor Kevin Högy und Bundesnachwuchstrainer Bernd Vökler das Budget Leistungssport auf.
Die Rolle des Referenten Leistungssport ist offensichtlich ein heißer Stuhl. Ihr Vorvorgänger Thomas Luther hatte Streit mit dem damaligen Bundestrainer und war nur ein Jahr im Amt. Ihr direkter Vorgänger Andreas Jagodzinsky ist zurückgetreten. Hatten Sie keine Bedenken, sich zu bewerben?
Natürlich habe ich mir das gut überlegt, weil es ein Ehrenamt ist und auch mit Verantwortung verbunden. Aber mir ist das Thema Leistungssport wichtig, denn darauf schaut man immer als erstes. Jedenfalls habe ich mich entschlossen, auf dem Online-Kongress des DSB zu kandidieren und bin dann mit knapp 90% der Stimmen gewählt worden.
Die Förderung des Frauenschachs bildet einen Schwerpunkt Ihrer Arbeit. Welche Fördermaßnahmen gibt es an dieser Stelle?
In allererster Linie steht dort das Powergirls-Programm, das wir nun auch für das Jahr 2023 verlängert haben. Allerdings haben wir zugleich eine Reduktion von sechs Teilnehmerinnen auf vier vorgenommen.
Warum sind zwei Spielerinnen aus dem Programm gefallen?
Sogar drei, weil Dinara Wagner nach ihrem Föderationswechsel neu hinzugekommen ist. In allen drei Fällen ist die Antwort gleich: Die Elo und damit die Leistung haben sich nicht so entwickelt wie erhofft, also eher nach unten als nach oben.
Unser männlicher Spitzenspieler ist Vincent Keymer. Er hat Anfang des Jahres in Wijk aan Zee einige Fehler im Endspiel gezeigt. Sie als Endspielspezialist müssen da doch besonders gelitten haben.
Ich habe die Partien live vor meinem Handy verfolgt. Da war ein Turmendspiel gegen Jordan van Foreest dabei, in dem er zwei Bauern gegen Null hatte. Aber das war so schwierig, dass mir selbst die Sache nicht klar war. Und wenn ein Spieler in der sechsten Stunde im entscheidenden Moment einen studienartigen Gewinn nicht findet, dann habe ich dafür vollstes Verständnis. Vincent Keymer ist natürlich ein Publikumsmagnet. Von einem solchen Zugpferd haben wir immer geträumt. Es ist wichtig, dass er möglichst oft in die Presse kommt.
Bei den Damen ist Elisabeth Pähtz zur Zeit mit ihrem neuen Buch viel in Funk und Fernsehen präsent. Auch Lara Schulze und Josefine Heinemann sind viel in den sozialen Medien unterwegs. Bei den Männern herrscht ziemliche Flaute, was die eigene Öffentlichkeitsarbeit angeht. Sehen Sie an dieser Stelle eine Mitverantwortung?
Da sprechen Sie einen wunden Punkt an. Die meisten starken Schachspieler sind eher introvertiert. Denen genügt es, gut Schach zu spielen. Sie haben kein Interesse daran, sich nach außen darzustellen. Aus Sicht des Deutschen Schachbunds beurteilt sich das anders. Der DSB will Aufmerksamkeit gewinnen, um für Sponsoren attraktiv zu sein und neue Schachspieler zu erreichen. Ich habe den Eindruck, es wird besser, aber es ist kein Selbstläufer.
Liviu-Dieter Nisipeanu war die langjährige Nummer 1 in Deutschland. Vor kurzem ist er aber aus der Nationalmannschaft zurückgetreten. Er kommt ja ursprünglich aus Rumänien, wo gerade viel Geld ins Schach gepumpt wird. Ist das ein Verlust, oder wäre er ohnehin bald aus dem Kader gestrichen worden?
Dieter war immer ein sehr wichtiger Spieler für das Nationalteam. Es ist ein bisschen tragisch, dass er gerade in meiner Amtszeit zum letzten Mal für Deutschland gespielt hat. Er ist aber in letzter Zeit von 2650 Richtung 2600 gewandert. Bei der letzten Kaderaufstellung hat er schriftlich darum gebeten, nicht mehr aufgestellt zu werden. Aus meiner eigenen Erfahrung weiß ich, dass es ab dem Alter von 40 Jahren keine großen Aufwärtsbewegungen mehr gibt. Meiner Meinung nach war seine Entscheidung daher richtig, zumal wir genügend Nachwuchsspieler haben, denen man eine Chance geben sollte.
Sie sind neuerdings auch als Trainer im Seniorenheim tätig. Wie kam das zustande?
Ich bin in zweifacher Hinsicht Trainer. Einmal gebe ich selbständig Schachtraining, allerdings nur in kleinem Umfang und an ausgewählte Schüler. Den Seniorenkurs mache ich erst seit kurzem. Dort trainiere ich im Auftrag der Münchener Schachakademie an einem Alten- und Servicezentrum in Haidhausen. Das ist für mich auch eine ganz interessante Erfahrung, weil ich als Großmeister natürlich nicht so nah an der Basis bin. Ich finde das ganz witzig, was ich da so beobachte. Aber vor allem gefällt mir, mit welchem Eifer die Senioren dabei sind.
Sie sind ja eigentlich völlig überqualifiziert für diesen Job.
[lacht] Ich sage mal so: Es war jetzt nicht mein größter Wunsch, um ehrlich zu sein. Aber wir hatten gerade eine extreme Trainerknappheit. Deshalb habe ich gesagt: Okay, ich springe halt ein.
Für die Schachzeitschrift KARL sind Sie auch schreiberisch tätig gewesen. Welche Rubriken haben Sie betreut?
In den letzten zehn bis 15 Jahren habe ich tatsächlich recht viel für den KARL geschrieben. Der Chefredakteur Harry Schaack hat mich immer wieder gebeten, einen Artikel zu einem bestimmten Thema zu erstellen. Der KARL ist ja ein Themenheft. Das hat mir auch Spaß gemacht. Zum einen weil ich ein Freund der deutschen Sprache bin. Und auch weil ich es als wertvoll erachtet habe, etwas Anspruchsvolles für ein ausgewähltes Schachpublikum zu verfassen. Die Bezahlung ist natürlich nicht so toll, wenn man ehrlich ist. Reich wird man durch Schreiben von Schachbeiträgen definitiv nicht.
Wie gut waren Sie eigentlich als Spieler? Nach einem Chessbase-Artikel war Ihre beste Platzierung die Nummer 36 in der Welt, laut Wikipedia war es aber Platz 50. Was stimmt denn nun?
Im Januar 1994 hatte ich erstmals über 2600 Punkte, nämlich 2605. Mit dieser Zahl war ich die Nummer 50. Es gab aber zwei Partien, die nachgewertet wurden und die ich gewonnen hatte. Das brachte mir weitere 10 Punkte, die ich im Juli 1994 gutgeschrieben erhielt. Damit kam ich rückwirkend auf 2615, und das hätte Rang 36 bedeutet. Diese Nachbewertung will ich aber gar nicht geltend machen. Mit Position 50 habe ich mich immer gut bedient gefühlt. Das war für mich das höchste, was ich erreichen konnte. Das lag aber auch daran, dass ich zu diesem Zeitpunkt schon fest angestellter Beamter bei der Stadt München war. Schach war streng genommen für mich nur noch ein Hobby. Bestenfalls war ich als Halbprofi zu bezeichnen.
Ihren internationalen Durchbruch hatten Sie aber schon 1991 beim SKA Mephisto Turnier in München. Inwiefern war das Turnier für Sie besonders?
Es war mein allererstes superstarkes Großmeisterturnier. Das Teilnehmerfeld war sehr erlesen mit Anand, Gelfand, Beliavsky, Hübner usw. Dazu habe ich dort auch meine letzte Großmeisternorm erzielt. Ich habe nie wieder so erfolgreich auf einem Turnier gespielt wie dort. Ich frage mich manchmal, wieso ich es damals geschafft habe, derart erfolgreich zu spielen, und nachher nicht mehr. Vermutlich hat in diesem Moment einfach alles zusammengepasst: Meine innere Einstellung, meine Leistungsbereitschaft, das richtige Alter, die Motivation der möglichen GM-Norm…
Ihr Sieg gegen Vishy Anand war ebenfalls dort?
Ja. Das Endspiel war sehr komplex, ich musste genaue Züge finden. Das habe ich tatsächlich geschafft. Mir kam zugute, dass ich als Jugendlicher die Endspielbücher von Juri Awerbach studiert hatte. Wenn wenig Material auf dem Brett ist, muss man die Kräfte bündeln. Ich wundere mich aber immer wieder, dass ich selbst heute noch auf diese Partie angesprochen werde. Ich würde die Partie jetzt nicht immer wieder hervorziehen und mich damit brüsten. Damals hatte Anand knapp über 2600 Elo, und es war nicht absehbar, dass er einmal Weltmeister wird.
Eine andere Schachlegende, nämlich Judit Polgar, haben Sie auch geschlagen.
Sogar zweimal. Einmal auch im Münchener Großmeisterturnier. Da hatte ich Weiß, sie hat mit Königsindisch geantwortet. Auf einmal habe ich einen sehr interessanten Angriff gefunden, indem ich den Turm über a1, a3 nach h3 gebracht habe. Dafür musste vorher aber noch der Bauer von g3 nach g4 ziehen. Das war nicht ganz intuitiv und hat sie anscheinend völlig aus der Fassung gebracht. Ihre Stellung ist dann zusammengekracht.
Und die zweite Partie?
Das war eine Fernsehpartie bei der Sendung „Schach der Großmeister” 1991 mit Helmut Pfleger und Vlastimil Hort als Kommentatoren. And diese Partie erinnere ich mich sehr gerne. Sie ist neulich von The Big Greek analysiert worden. Er hat mir allerdings die Computerbewertungen nur so um die Ohren gehauen. An verschiedenen Stellen habe ich nicht den stärksten Zug gefunden. Als Entschuldigung kann man vielleicht heranführen, dass es nicht ganz einfach ist, in so einer Glaskabine und unter dem Druck zu spielen.
Aufgrund Ihrer Leistungen wurden Sie auch in die deutsche Nationalmannschaft berufen. Da sind Sie ja auch ganz schön in der Welt herumgekommen.
Gar nicht mal so sehr, wie ich wollte. 1992 in Manila und 1994 mit der Schacholympiade in Moskau war dann schon wieder Schluss für mich. Bei mir war halt das Problem, dass ich beruflich gebunden war. Außerdem hat auch die Konkurrenz nicht geschlafen. Jörg Hickl oder Matthias Wahls waren starke Spieler damals. Es hat mich immer ein bisschen traurig gemacht, dass ich in meiner Karriere so wenige Olympiaden (nur zwei) und Europameisterschaften (ebenfalls nur zwei) gespielt habe.
Sie treten aktuell in der zweiten Bundesliga Ost für Zugzwang München an. Wie läuft es?
Sehr gut, wir sind tatsächlich Meister geworden. Die Entscheidung für den Aufstieg kann man allerdings nicht auf die leichte Schulter nehmen. Die Kosten in der ersten Bundesliga gehen sprungartig nach oben. Und man muss sich auch sportlich verstärken, weil man sonst völlig chancenlos am unteren Ende der Tabelle rumkrebst und ein Match nach dem anderen verliert. Die erste Bundesliga ist mittlerweile so stark geworden, dass man fast schon mit acht Großmeistern antreten muss. Insofern weiß man nie so recht, ob man den Kurs erste Bundesliga wirklich einschlagen soll. Inzwischen haben wir uns aber dafür entschieden, nachdem auch unser Sponsor Roman Krulich zugesagt hat.
Ein Wort noch zur Weltmeisterschaft. Bei Erscheinen dieses Interviews werden die Leser bereits wissen, wer sich die WM-Krone sichern konnte. Haben Sie Verständnis für den Rückzug von Magnus Carlsen?
Ich verstehe das total. Er ist nach Elo seit zehn Jahren die Nummer eins der Welt, hat unglaublich viele Turniere gewonnen und hat jedes WM-Match für sich entschieden. Jeder weiß, dass es keine Kleinigkeit ist, so eine Weltmeisterschaft zu gewinnen, selbst wenn man der deutliche Favorit ist. Er braucht ein ganzes Team, muss sich Monate vorher vorbereiten. Die Anspannung ist sehr groß, die ganze Welt schaut zu. Insofern habe ich allergrößtes Verständnis dafür, dass er diesen Zirkus nicht nochmal mitmachen will.
Wie beurteilen Sie den Stellenwert einer WM, bei der der beste Spieler fehlt?
Der Sieger ist offizieller Weltmeister, wird aber nicht von allen so gesehen. Insofern ist das natürlich ein Problem. Diese Situation hat es schon sehr lange nicht mehr gegeben. Meistens hat man von den Spielern, die ihren Titel verloren haben, nicht mehr viel gehört. Kasparov, Karpov, Kramnik - da war dann nach dem Titelverlust auf einmal die Luft raus. Carlsen wird dagegen wahrscheinlich sehr aktiv bleiben. Ich würde nicht mal ausschließen, dass er sogar zum nächsten WM-Zyklus antritt, um seinen Titel zurückzugewinnen.
Letzte Frage: Welches Thema im Schach liegt Ihnen aktuell besonders auf dem Herzen?
Definitiv das Frauenschach. Ich habe mal gelesen, dass es im Deutschen Sportbund überhaupt nur noch eine Sportart gibt, die einen vergleichbar niedrigen Frauenanteil hat wie Schach: Nämlich das Sportangeln. Dieses Missverhältnis ist nicht gut. Je älter ich geworden bin, umso weniger Lust habe ich auch, in einen Schachclub zu gehen, wenn da nur Männer sitzen. Nicht weil ich Bedarf hätte, eine Frau zu finden. Ich bin glücklich verheiratet. Aber es ist einfach ein natürlicheres Umfeld, wenn mehr Frauen da sind. Und deswegen stehe ich voll hinter dem Ziel des Deutschen Schachbundes, den Frauenanteil sichtbar zu erhöhen.
Dann drücke ich Ihnen und uns allen die Daumen, um dieses Ziel zu erreichen. Vielen Dank für das Interview!
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