Kapitel 4 sei einem Fehlertyp gewidmet, der Ursache für Millionen von Verlustpartien ist.
Stellungen in denen die eine Seite mangels Zeit oder mangels Vorsicht versäumt hat, dem König ein Schlupfloch in ein Schutzschild zu bauen, gibt es wie Sand am Meer. Grundreihenmatt ist die dafür vorgesehene Bestrafung; vollzogen wird sie mit Dame oder Turm immer dann, wenn von vorne keine direkte Gefahr droht, ein Angriff von der Seite aber nicht mehr pariert werden kann, weil seiner Majestät nun mal die Sprungqualitäten eines Springers abgehen.
Keinesfalls sind es nur Anfänger, die diesem leichtsinnigen Partieende erlegen sind; prominente und renommierte Schachgrößen zählen ebenfalls zu den Opfern dieses tückischen und scheinbar unausrottbaren Mattbildes. Gemeint sind nicht etwa solche Stellungen, bei denen sich ein Spieler gar nicht der drohenden Gefahr bewusst ist, sondern solche, bei denen er sehr wohl um die Gefahr des Grundreihenmattes weiß, sie aber zu beherrschen glaubt. Ein Beispiel aus dem Jahre 1938 (Czaya – Dr. Staudte):
Mit einer Figur weniger scheint Weiß verloren, wenn kein Wunder geschieht. 1.Txf6 sollte dem Anziehenden das Wunder ermöglichen, denn 1...gxf6 würde mit 2. Dxf6+ beantwortet, was zum Remis per Dauerschach führt. Und bei einem Dame- oder Turmschach auf der ersten Reihe würde sich der weiße Turm auf die Selbige zurückziehen und diesmal sogar Deckung von der eigenen Dame erhalten.
Dem – mitunter - peinlichen Grundreihenmatt scheint tatsächlich Einhalt geboten zu sein. Hätte nicht Schwarz, wunderschön und grausam zugleich, sämtliche Illusionen mit 1...Dxe6!! zerstört. Nicht den Turm auf f6 schlägt Schwarz, er gibt im Gegenteil noch die wertvollste Figur gratis dazu – aber wie Weiß auch nehmen mag, stets bringt Tc1+ das Matt auf der ersten Reihe. Es bliebe also nur noch 2.h3, wonach 2...Dxf6 dem Schwarzen einen Mehrturm belässt.
Wie sich zeigt, erliegt man gelegentlich dem Grundreihenmatt selbst dann, wenn man es zwar ahnt, nur leider versäumt hat, sämtliche Antworten des Gegners zu prüfen, sondern nur die naheliegendste. Ein bekanntes Beispiel, bei dem eben dies Ursache für den Verlust war, führt uns nun zum eigentlichen Feld dieses Kapitels:
Schwarz, in diesem Fall Gligoric, entschied sich hier zu 19...Txc3. Weiß steckt in Schwierigkeiten und hofft auf Vereinfachung mittels Abtausch durch 20.Txf5 Dxf5 und 21. Dxc3. Danach sind ungleichfarbige Läufer auf dem Brett, und Remis scheint realistisch.
Doch auch diesmal sollte der ahnungslose Weiße nach 20. Txf5 eine böse Überraschung
erleben, denn es folgte nicht etwa das Erwartete, sondern das Spektakuläre. Etwas, das schonungslos und radikal den freischwebenden Charakter der weißen Steine offenbart.
Autoren mit einer gewissen Neigung zu blumiger Sprache bemühen im Kommentar solcher Aktionen gerne das Bild eines Keulenschlages oder auch einmal den nicht minder beliebten Blitz aus heiterem Himmel, und wie anders sollte man 20...Txb3!!
betiteln? Zur ohnehin vorhandenen Grundreihenschwäche kommt nun noch erschwerend hinzu, dass die weißen Steine vollkommen zusammenhanglos auf dem Brett verteilt sind und nun Opfer der schwarzen Drohungen werden. Das Motiv ´Abzug´ führte zur Aufgabe von Weiß.
Gegen das Grundreihenmatt ist wieder einmal kein Kraut gewachsen, sieht man mal von der Möglichkeit ab, den Turm auf b3 mittels 21. axb zu entfernen, da dies den Leidensweg wegen Damenverlustes im nächsten Zug nur noch unnötig verlängert.
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Die Gefahr eines Grundreihenmattes ist für Weiß dieses mal wahrlich nicht mehr akut.
Andere Gefahren lauern. Einen schwarzen Läufer, dem die Möglichkeit eines Doppelangriffs auf zwei Schwerfiguren offeriert wird (... Lc5), sollte man nicht aus den Augen lassen. Die Stellung passt aber dennoch thematisch in dieses Kapitel. Zunächst einmal erleben wir einen selten schönen Opferzug auf b3 und zusätzlich einen weißen König, der sich auf einfachste Weise eines Grundreihenmattes entzieht, indem er die Flucht nach vorne ergreift.
David Bronstein zeigte 1973 in einer Partie gegen Ljubojevic, wie effektiv Läufer sein können, wenn man sie rechtzeitig auf die richtigen Felder bugsiert, und demonstriert gleichzeitig, wie gegnerische Läufer aus dem Spiel genommen werden. Alles in wenigen Zügen. Er hat gerade seinen schwarzfeldrigen Läufer nach g5 aktiviert und so die gegnerische Dame nach c7 gezwungen, um jetzt erneut mit einem Läufer zu glänzen.
Zunächst jedoch die Erklärung für den ersten Läuferzug. Bronsteins Stellung war problematisch: Der König in der Mitte, ein zertrümmerter Königsflügel und kaum Aussicht auf Sicherheit für den Monarchen. Was liegt in solchen Fällen näher, als zum Angriff überzugehen? Zumal dann, wenn man Schwächen im gegnerischen Lager erspäht und diese mit verhältnismäßig geringem Aufwand nutzen kann.
Bronstein leitete deshalb ohne Rücksicht auf materielle Verluste entlang der geschwächten dunklen Felder einen Mattangriff ein. Entschließt man sich zu einem solchen Manöver, ist es wichtig, schnell zu handeln, ein einziger Tempogewinn
kann in solchen Situationen ausschlaggebend sein.
Und wie kann man leichter ein Tempo gewinnen, als durch ein Opfer? Hierfür bietet sich der weiße Turm auf g1 an, steht er doch ungedeckt auf einer Diagonalen mit der eigenen Dame. Fast zwangsläufig scheint daher Bronsteins nächster Läuferzug: 16.Lb3!
Er bietet tatsächlich einen ganzen Turm für ein Tempogewinn! Ja, er zwingt geradezu sein Gegenüber auf den Turm loszugehen.
Wohin sollte der schwarze Läufer ziehen [gemeint ist...wenn nicht nach c5?, Anm.d Red.]? Über einen Abtausch gegen den Springer hätte Weiß ganz gewiss nicht das Geringste einzuwenden. Der Nachziehende wäre auf den dunklen Feldern des Königsflügels verteidigungsunfähig. Eine Deckung des Läufers mittels 16...Sa6 würde die weißen Zentrumsbauern in Marsch setzen und dem weißen Läufer auf b3 schon mal die Sicht auf den König freigeben.
Lange Rede, kurzer Sinn: Weiß zwingt Schwarz durch 16.Lb3! zu einem Angriff auf den Turm g1. Und wer A sagt, sagt meist auch B; will sagen, wer den Turm angreift, der nimmt ihn auch. Es geschah also: 16...Lc5 17.Df4 Lxg1, und Weiß verfügt über ausreichend starken Angriff.
Zwar steht der weiße Monarch immer noch mitten auf dem Brett und scheint verwundbarer den je, aber es zeichnet sich nirgends ein schwarzer Gegenangriff ab. Im Gegenteil: Schwarz verfügt zwar über einen Turm mehr, doch scheint das Wort verfügen nicht wirklich zu passen, betrachtet man die armselige Position der schwarzen Steine im Kontrast zu den frank und frei aufspielenden weißen. Der Anziehende hat die Initiative und versteht sie zu nutzen.
Wen kümmert es da, wenn nachträglich Kritik an der Annahme des Opfers laut wurde und Züge wie 17...S8d7 und 17...Te8 vorgeschlagen wurden. Nachher ist man immer schlauer, und die Lösung des gordischen Knotens sind sie auch nicht. Dem interessierten Leser sei der weitere Fortgang der Partie im Anhang empfohlen. Ein mutiger König hilft furchtlos und tatkräftig bei der Zielerfüllung des Spiels.
Bronstein,D - Ljubojevic,L
Petropolis izt (11), 1973
1.e2-e4 Sg8-f6 2.e4-e5 Sf6-d5 3.d2-d4 d7-d6 4.c2-c4 Sd5-b6 5.f2-f4 d6xe5 6.f4xe5 c7-c5 7.d4-d5 e7-e6 8.Sb1-c3 e6xd5 9.c4xd5 c5-c4 10.Sg1-f3 Lc8-g4 11.Dd1-d4 Lg4xf3 12.g2xf3 Lf8-b4 13.Lf1xc4 0-0 14.Th1-g1 g7-g6 15.Lc1-g5 Dd8-c7 16.Lc4-b3
Lb4-c5 17.Dd4-f4 Lc5xg1 18.d5-d6 Dc7-c8 19.Ke1-e2 Lg1-c5 20.Sc3-e4 Sb8-d7 21.Ta1-c1 Dc8-c6 22.Tc1xc5 Sd7xc5 23.Se4-f6+ Kg8-h8 24.Df4-h4 Dc6-b5+ 25.Ke2-e3 h7-h5 26.Sf6xh5 Db5xb3+ 27.a2xb3 Sb6-d5+ 28.Ke3-d4 Sc5-e6+ 29.Kd4xd5 Se6xg5
30.Sh5-f6+ Kh8-g7 31.Dh4xg5 Tf8-d8 32.e5-e6 f7xe6+ 33.Kd5xe6 Td8-f8 34.d6-d7 a7-a5 35.Sf6-g4 Ta8-a6+ 36.Ke6-e5 Tf8-f5+ 37.Dg5xf5 g6xf5 38.d7-d8D f5xg4 39.Dd8-d7+ Kg7-h6 40.Dd7xb7 Ta6-g6 41.f3-f4 1-0