Wenzels Rösselsprung: 1. d4

Wenzels Rösselsprung: 1. d4

Frank Wenzel ist einer derjenigen Menschen, die zwar nicht gerne Schach spielen, aber trotzdem vom königlichen Spiel begeistert sind. Denn Schach bedeutet nicht nur Wettbewerb, sondern auch Geschichte, Kultur und Faszination. 

Die Serie "Wenzels Rösselsprung" ist ein Auszug aus dem Wenzels (nicht im Handel erhältlichen) Buch "64 berühmte Felder". 64 kleine Geschichten beleuchten jeweils ein Feld des Schachbretts anhand zweier berühmter Partien. Die Reihenfolge ergibt sich dabei aus dem Rösselsprung - der durchgehenden Route eines Springers auf allen 64 Feldern. 

Wenzels Rösselsprung: 1. d4

Moderne Turnierpartien glänzen selten direkt nach der Eröffnung mit bloßgelegten
Königsflügeln. Der flüchtige Blick auf das Diagramm gibt daher berechtigten Grund zu der Annahme, eine leicht antiquierte Partie zu betrachten.

Eine aus dem Jahre 1836, um präzise zu sein, entstanden nach nur 15 Zügen aus dem Königsgambit; jener legendären Eröffnung, die bereits im 16. Jahrhundert erforscht wurde, und in der guten alten Zeit als romantische Waffe par excellence gefürchtet war.

Spektakuläre Angriffssiege in wenigen Zügen sind ebenso möglich, wie fatales Scheitern. Ihren Mythos als Paradebeispiel für eine direkte Angriffseröffnung konnte das oft totgesagte Königsgambit durch immer neue Verbesserungen bis heute bewahren. Dem vagen Traum des Überraschungssieges folgend wird frühzeitig Material geopfert, Entwicklungsrückstand und Königssicherung sind Fremdwörter für royale Gambitliebhaber.

In der vorgestellten Partie gelang es dem jungen Franzosen Labourdonnais, mit seinem nächsten Zug die Entscheidung herbeizuführen. Den Führer der schwarzen Steine (in einer Blindsimultanvorführung, er spielte ohne Ansicht des Brettes drei Partien gleichzeitig!) kümmern materielle Belange wenig. Jene Zeit vernachlässigte im Allgemeinen gerne einmal lästiges Abzählen der Püppchen zur Feststellung, wer gerade eine Figur oder einen Bauern im Vorteil ist. Der Zeitgeist forderte mutiges Angriffsspiel: 15...Sxd4!

Dieser Verpflichtung nachkommend beteiligt sich nun der Springer am schwarzen Angriff mit eigener Mattdrohung auf f3 oder märtyrerisch als Räumungsopfer für den Lg7, der – im Falle von 16.cxd Zugang zum Feld d4 erlangt und entscheidend den weißen König bedroht.

Weiß verbleibt ohne vernünftige Verteidigung. Eingekesselte Türme nützen ebensowenig wie wirkungslos ausgerichtete Läufer; ganz zu schweigen von den Springern. Der eine galoppierte in der Eröffnung hungrig übers ganze Brett und dient der Verteidigung nun ebenso effektiv, wie sein noch im Stall befindlicher Artgenosse. Bleibt einzig die First Lady für eventuelle Rettungsaktionen. Aber wohin? 16.Dd1 kann zumindest kurzfristig ein Matt nach Sf3 verhindern, nicht aber eines nach 16...Df6! oder 16...gxh. In der Partie geschah noch 16. Dxe4+ Dxe4 17. Lxe4 Se2 matt.

Austragungsort dieser Partie war das legendäre Café de la Régence in Paris, Schachzentrum der Welt in jener Zeit. Alles, was Rang und Namen hatte, traf sich hier zum Schachspiel, die besten Spieler, wie auch Persönlichkeiten aus Gesellschaft und Politik. Napoleon verkehrte hier ebenso wie Robespierre und Rousseau, in einer Zeit, da romantische Siege noch ohne Zeitmessung und Turniertaktik ausgefochten wurden, da Schach nicht in mehrrundigen Turnieren, sondern eher in kleinen Einzelduellen oder, wie hier, in Simultanvorführungen zelebriert wurde.

Erst Jahrzehnte später entwickelte sich die heutige Form des Turnierschachs.
1851 machte London mit dem ersten internationalen Schachturnier der modernen
Geschichte den Auftakt und hatte in den folgenden Jahrzehnten zahlreiche Nachahmer. Seit 1895 werden beispielsweise regelmäßig Schachschlachten in einer englischen Stadt ausgekämpft, die schon durch den Einfall von Wilhelm dem Eroberer im Jahre 1066 Berühmtheit erlangt hat und eigentlich keinen Bedarf an weiteren Schlachten reklamieren dürfte.

Der blutigen Battle of Hastings wird nun seit über hundert Jahren das auch
kämpferische, aber keineswegs kriegerische Schachturnier beigestellt. Ein Traditionsturnier mit von Anfang an hochkarätiger Besetzung: 1895 trafen sich dort u.a. Kapazitäten wie Tarrasch, Steinitz, Tchigorin und der spätere Sieger Pillsbury zum gemeinsamen Kräftemessen. Die Begegnung Tarrasch – Walbrodt brachte nach dem 32. Zug von Weiß diese Stellung auf das Brett:

Weiß hat gerade seinen Springer auf d6 eingepflanzt und bearbeitet weiter heftig das Feld f5. Hinterhältig geopfert hat der weiße Springer die Deckung des Bauern e5. Von c4 kommend lebt er in der Hoffnung, die schwarze Dame zum Bauernraub verleiten zu können. Diese zeigte sich der Verlockung nicht gewachsen, nahm mit 32...Dxe5 den Bauern und verletzte so das Prinzip, Dame und König nicht auf der gleichen Diagonale zu postieren, wenn noch ein Läufer der Gegenseite auf selbiger steht.

In konsequenter Fortführung des Begonnenen folgte nachgerade zwingend 33.Sxf5. Und wieder ahnt Schwarz nichts vom drohenden Damoklesschwert des Läufers auf b2. Dame und König scheinen durch den Bauern c4 ausreichend abgeschirmt und die Gelegenheit ist günstig, selber aktiv zu werden, um den
weißen Turm zu attackieren. 33...Se6 wäre eine hierfür geeignete Maßnahme gewesen, 33...Tf8 sah vielversprechend aus, doch Walbrodt entschied sich für 33...Sh5 und sah sich dieser Position gegenüber:



Die Diagonale wird weiter aufgerissen. Welcher Zug eignet sich hierzu besser als 34.Txd4!! Ein Opfer zerstört die Illusion. Dass der Turm nicht genommen werden kann, ist klar [34. ... cxd4 35.Lxd4]. Bleibt die Hoffnung auf eigenen Gegenangriff mit 34...Sxg3 (in der Originalpartie geschehen), oder eventuell ein vorbereitendes 34...Lc7, denn direkte Gefahr für das Monarchenpaar droht durch einen Turmabzug deshalb nicht, weil der Läufer b2 ungedeckt steht und im Falle des Falles geschlagen werden kann.

Schwarz entschied sich für das aktive 34...Sxg3, hoffte noch auf Gegenspiel durch die verdoppelten Türme auf der g-Linie. 35.Sxg3 Txg3 36.hxg Txg3 37.Kf1. Tatsächlich machen die Türme noch einmal mächtig Theater und gewinnen sogar nach 37...Txd3:die Dame, doch nach 38.Tg4 ist die Messe gelesen. Die Mattdrohung der Türme und eine gefesselte Dame sind des Guten zuviel.

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Der Urheber des Zugs Txd4 in der gezeigten Partie hat ein Schachbuch verfasst, das Immer noch eines der besten Einsteigerbücher ist: